'Wir' haben oder 'man' hat nichts 'davon' gewußt: Hier liegt, wie Peter Longerich in seiner grundlegenden Untersuchung zur Frage des Wissens über die Judenverfolgung eingangs feststellt 'eine kollektive, im Laufe der Zeit verfestigte Abwehr vor' (S. 7). 'Davon' ' auch dies wird in dem allgemein bekannten Satz nicht näher erläutert.
Wieviel denn nun Deutsche von der Judenverfolgung und -vernichtung wissen konnten und wollten, war in den letzten Jahren verstärkt Thema historischer Forschungen. Die Quellenbasis hat sich nicht zuletzt durch den Band 'Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933-1945' herausgegeben von Otto Dov Kulka und Eberhard Jäckel (vgl. WLA vom Frühjahr 2006) bedeutend erweitert ' auf die hier versammelten Dokumente konnte Longerich bereits vor der Veröffentlichung für seine vorliegende Untersuchung zurückgreifen. Seine Quellenbasis ist breit: Über diese Stimmungsberichte und andere Quellen der Nationalsozialisten über zahlreiche Zeitungen hin zu privaten Tagebüchern. Doch wie ist mit derartigem Quellenmaterial überhaupt methodisch umzugehen, fragt der Autor eingangs und stellt seiner Untersuchung daher ein Kapitel über ''Öffentlichkeit' und 'Volksmeinung' unter der NS-Diktatur' voraus: Eine Öffentlichkeit, in der ein alternativer Diskurs jenseits der offiziell propagierten Meinung hätte entstehen können, fehlte im nationalsozialistischen Deutschland und die Berichterstattung über die Ansichten der Bevölkerung war verzerrt und bedarf daher einer äußerst sorgfältigen Quellenkritik.
Longerich untersucht chronologisch die Phasen der Judenverfolgung und in diesen jeweils die Propaganda, die Berichterstattung in der Presse und dann die Reaktionen der Bevölkerung sowie die Wechselwirkungen zwischen diesen Faktoren. Er möchte die Frage nach dem Wissen der Bevölkerung mit der Frage der Öffentlichkeit der Judenverfolgung in der Diktatur verbinden, er fragt also immer wieder, wann und wie das Regime das Thema auch selbst öffentlich machte. Deutlich wird, daß es Phasen gab, in denen eine starke antisemitische Propaganda betrieben wurde und solche Phasen, in denen das Thema deutlich in den Hintergrund trat. Die Menschen sollten erzogen werden, sollten sich auf vorgeschriebene Weise gegenüber den Juden verhalten. Jedoch zeigte sich, 'dass die NS-'Judenpolitik' in der Bevölkerung ein erhebliches Maß an Verständnislosigkeit, Skepsis und Kritik zu überwinden hatte' (S. 320). Es formierte sich kaum Protest, Longerich konstatiert aber einen breiten risikolosen 'Unwillen' (S. 321).
Auffällig ist, wie behutsam Longerich argumentiert, er hütet sich vor vorschnellen Schlußfolgerungen und diskutiert immer wieder den Quellenwert der jeweils herangezogenen Dokumente. Umso schwerer wiegt es, wenn er nachweist, wie öffentlich das NS-Regime den Massenmord seit Mitte 1942 thematisierte, es darauf anlegte, das deutsche Volk zu Mitwissern zu machen. Viele wollten aber nicht, zu unerträglich erschien dieses Wissen. Longerich resümiert am Ende seiner exzellenten Studie: 'Die einfachste und vorherrschende Haltung war daher sichtbar zur Schau getragene Indifferenz und Passivität gegenüber der 'Judenfrage' ' eine Einstellung, die nicht mit bloßem Desinteresse an der Verfolgung der Juden verwechselt werden darf, sondern als Versuch gesehen werden muss, sich jeder Verantwortung für das Geschehen durch ostentative Ahnungslosigkeit zu entziehen. Es scheint, als habe die nach Kriegsende zur stereotypen Floskel gewordene Redewendung, man habe 'davon' nichts gewusst, ihre Wurzeln in eben dieser Verweigerungshaltung der zweiten Kriegshälfte: in der Flucht in die Unwissenheit' (S. 328).
Das Kapitel, in dem Longerich sich der Frage widmet, was die Deutschen vom eigentlichen Judenmord wußten, ist bezeichnend überschrieben: 'Die 'Endlösung' als öffentliches Geheimnis'. Und Frank Bajohr und Dieter Pohl nennen ihre gemeinsame Veröffentlichung zweier aufschlußreicher Essays ebenso deutlich: 'Der Holocaust als offenes Geheimnis'.
Frank Bajohr untersucht im ersten Teil des Buches: 'Vom antijüdischen Konsens zum schlechten Gewissen. Die deutsche Gesellschaft und die Judenverfolgung 1933-1945'. Es geht ihm hier vor allem um den Umgang der deutschen Gesellschaft mit ihrem Wissen, und auch hier wird wieder die Frage nach der Interaktion von Regime und Bevölkerung gestellt. Bajohr nennt vier Komponenten, die die gesellschaftliche Zustimmung zur Entwicklung nach 1933 begünstigten: Antisemitismus, Interessenanpassung, Interessenaktivierung und Zustimmung zum NS-Regime. Er weist nach, wie detailliert Deutsche über den Holocaust informiert sein konnten, wenn sie wollten, wie unverschleiert die Spitzen des Regimes teilweise über den 'allmählichen Vernichtungsprozeß' (Zitat Goebbels vom 16. November 1941, S. 57) sprachen.
Im zweiten Teil des Buches geht es um eine andere Öffentlichkeit: Dieter Pohl widmet sich der Frage, wie die nationalsozialistische Führung mit der Publizität seiner Verbrechen umging. Kurz gesagt: Das Ausland wußte vom Holocaust und die NS-Führung wußte, daß das so war. Dieter Pohl zeigt auf, wie konkret die Welt bereits seit Herbst 1941 informiert war, wie regelmäßig beispielsweise die BBC informierte und die westliche Presse über den Massenmord berichtete. Doch riefen die detaillierten Berichte nur selten offizielle Reaktionen hervor. In Berlin wurde die Berichterstattung durchaus registriert und das Regime zog zwei Konsequenzen: Der Judenmord sollte beschleunigt und besser geheim gehalten werden; die Publizität wurde also als durchaus unangenehm empfunden, zu einer Milderung der Vernichtungspolitik trug dies aber keineswegs bei. Nach Stalingrad kam es hier zu einem Wandel: Die nationalsozialistische Führung ging nun daran, die Spuren des Massenmordes zu verwischen. Dieser Versuch schlug aber weitgehend fehl.
So kann das Fazit von Dieter Pohl durchaus für beide hier vorgestellten Bücher gelten: 'Die Massenverbrechen des Nationalsozialismus und insbesondere der Mord an den Juden waren im Reich und bei den Alliierten seit Mitte 1942 ein offenes Geheimnis' (S. 128).