'Ich denke, dass ich als Jude hier keine Zukunft habe.' Mit dieser lakonischen Aussage beantwortet der junge Wehrpflichtige Gerhard Freimark 1938 die am Bochumer Hauptquartier der Hitlerjugend gestellte Frage, weshalb er in die USA auswandern möchte. Seinem Antrag auf Befreiung vom Militärdienst wird stattgegeben und wenige Monate später läßt der 17-Jährige, gemeinsam mit seiner ein Jahr älteren Schwester Stefanie, die Eltern Simon und Karola Freimark im Ruhrgebiet zurück. In den Folgejahren entwickelt sich ein reger Briefwechsel zwischen Eltern und Kindern, der nun in weiten Teilen in einer von Hubert Schneider edierten und kommentierten Ausgabe vorliegt.
Schneider, langjähriger Dozent für Neuere Geschichte an der Ruhr-Universität und Vorsitzender des Bochumer Vereins 'Erinnern für die Zukunft', stellt im ersten Teil des Buches die Familie Freimark und die Stationen ihres Lebens infolge der nationalsozialistischen Politik der Segregation, Verfolgung und Verdrängung vor. Gerhard (Jerry) und Stefanie Freimark wird das Einleben in Philadelphia, wo sie als sogenannte 'Enemy Aliens' bei Verwandten Unterschlupf gefunden haben, zunächst nicht leicht gemacht. Erst nach und nach etablieren sie sich, er als Zahnarzt, sie anfangs als Schneiderin, später als Lehrerin. Simon und Karola Freimark, die sich bis 1933 fraglos als gleichberechtigte Mitglieder der deutschen Gesellschaft begriffen haben, begleiten Tochter und Sohn aus der Ferne mit großer Zuneigung und ständiger Sorge, während sie selbst darum bemüht sind, endlich die Ausreiseerlaubnis zu erlangen. Statt der ersehnten Emigration erfolgt 1942 die Internierung in Theresienstadt, dessen (im Vergleich zu anderen Lagern späte) Befreiung sie nur dank glücklicher Umstände erleben. Erst nach einem längeren Aufenthalt im DP-Lager Deggendorf können die Eltern im Mai 1946 ihren Kindern nach Amerika folgen.
Den Hauptteil des Bandes bildet die Dokumentation der insgesamt 142 Briefe der Eltern (102 aus Bochum, 40 aus Theresienstadt und Deggendorf) sowie der 25 zwischen 1945 und 1946 geschriebenen Briefe der Kinder ' deren Antworten auf die früheren Schreiben leider nicht erhalten sind. Angesichts der berechtigten Sorge vor Zensur und um die Kinder nicht zu beunruhigen, bleiben politische Themen in den Bochumer Briefen oft ausgespart oder werden lediglich angedeutet. Dennoch läßt sich etwa anhand der Dokumente nach der Pogromnacht 1938 oder dem Angriff auf die Sowjetunion 1941 das Ausmaß an Bedrohung ablesen: 'Unser Optimismus lässt uns im Stich, l. Jerry.' (S. 222) Ein die Briefe dominierendes Thema stellen die Versuche dar, die eigene Auswanderung zu forcieren. Scheinen die Freimarks, im Gegensatz zu anderen Opfern des NS-Regimes, schon allein wegen der vorausgegangenen Kinder ab 1938 keine Zweifel mehr an der Unumgänglichkeit dieses großen Schrittes zu haben, tritt in den Briefen doch das ganze Dilemma zutage, dem Auswanderungswillige in ihrer Abhängigkeit von der politischen Lage, persönlichen Beziehungen und weiteren, nur selten beeinflußbaren Faktoren ausgesetzt waren.
Der von Schneider in Kapitel 5 zu Recht betonte Wert der Freimark-Selbstzeugnisse auch für überregionale Studien zur Sozialgeschichte des deutschen Judentums im Allgemeinen und des akkulturierten jüdischen Mittelstands im Besonderen besteht einerseits darin, daß die verbrecherische Politik der Nationalsozialisten fassbar wird ' die zunehmend eingeschränkte Nutzung von Presse und Radio, der Kennkartenzwang oder die Schaffung von 'Judenhäusern', wie dem in der Bochumer Horst-Wessel-Straße 56, sind nur einige Beispiele, die ungeachtet aller Subjektivität der Wahrnehmung paradigmatischen Charakter aufweisen dürften. Andererseits ermöglicht der erhaltene Briefzyklus nach Kriegsende einen interessanten Blick auf Probleme und Perspektiven, die sich für jüdische Überlebende ergeben haben. Die einprägsame Lektüre wird zusätzlich durch das umfassende Personenverzeichnis und die kenntnisreichen Anmerkungen des Herausgebers aufgewertet, der damit neben der Familie Freimark vielen weiteren Mitgliedern der jüdischen Bochumer Gemeinde ein Gesicht gibt.