Ostpreußen
Geschichte und Mythos

'Um Ostpreußen tobt seit 1945 so etwas wie ein Glaubenskrieg' (S. 9). So beginnt Andreas Kossert seine glänzend geschriebene Darstellung der Geschichte Ostpreußens. Der Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts in Warschau hatte 2001 sein vielbeachtetes und hochgelobtes Buch 'Masuren. Ostpreußens vergessener Süden' vorgelegt. Nun also eine Geschichte Ostpreußens, die entstehen konnte, weil sich seit der Wende in Mittel- und Osteuropa die extremen Lager langsam, aber stetig annähern und jüngere Forschergenerationen unbefangener auf das blicken, was Kossert den 'Kern der Dinge' innerhalb der Geschichte Ostpreußens nennt: die 'deutsch-litauisch-polnischen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhhunderts' (S. 9). Für jede dieser Nationen spielt Ostpreußen eine wichtige Rolle im kulturellen Gedächtnis, seine Geschichte wurde und wird häufig verzerrt dargestellt, Erinnern und Vergessen bzw. Ausblenden sind anhand des Mythos Ostpreußen gut zu beobachten, verwiesen sei etwa auf die Deutungen der Schlacht bei Tannenberg/Grunewald.
Entgegen der nationalistischen Deutungen nach 1945 setzt Kossert den Akzent seiner Darstellung auf die jahrhundertelange Toleranz, schreibt gegen die Mythen des 19. und 20. Jahrhunderts. Wie bereits in der genannten Studie 'Masuren' baut er auch hier wieder sehr gelungen Literatur in die historische Darstellung ein, zitiert aus Sagen, Gedichten, älterer Geschichtsschreibung oder Reiseberichten. Kosserts Schilderung ist überraschend facettenreich, wie folgendes Beispiel zeigen mag: 'Einwanderer haben das Land zwischen Weichsel und Memel in vieler Hinsicht bereichert, auch kulinarisch, wie die Geschichte des Königsberger Marzipans zeigt' (S. 143). Kossert stellt neben der politischen auch die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung dar, und der Leser erfährt sogar die Zahl der Bordelle in Memel im Jahre 1830.
Seit der Reichgründung 1871 gehörte Ostpreußen zum Deutschen Reich, für den Autor der Wendepunkt: 'Nach 1870 war nichts mehr, wie es gewesen war. Mit der kleindeutschen Reichsgründung ging ein chauvinistischer Nationalismus einher, der die multiethnischen Traditionen Preußens aus vornationaler Zeit hinwegfegte. Bis in die letzten Gaue des Reiches sollte nur noch die deutsche Zunge zu hören sein' (S. 177). Im 20. Jahrhundert wurde Ostpreußen dann endgültig zum nationalistischen Zankapfel, bevor der Zweite Weltkrieg den Endpunkt setzte: Ostpreußen ging unter in einem Krieg, der Terror und Verbrechen über ganz Europa verbreitete. Siebenhundert Jahre deutscher Geschichte in Ostpreußen sind unter den Trümmern des Dritten Reiches verschüttet' (S. 330).
Kossert plädiert unter Rückgriff auf Siegfried Lenz an ein Fortbestehen der Erinnerung an Ostpreußen jenseits politischer Instrumentalisierung (S. 387), für eine 'Neuverortung der Geschichte Ostpreußens' (S. 392), für eine unbefangenere Erinnerung an 'die großartige Landschaft Preußen zwischen Weichsel und Memel, die nur in ihrer historischen Einheit lebendig wird' (S. 395).