Franz Kafka
Der ewige Sohn

'Franz Kafkas Wirklichkeit war ein weitläufiger Raum der Einbildungskraft.' So beginnt die grandiose Kafka-Biographie aus der Feder des an der FU Berlin lehrenden Literaturwissenschaftlers Peter-André Alt. So sehr die Topographie seines äußeren Lebens beschränkt gewesen sei, so riesig war dagegen Kafkas 'Reich des Imaginären' (S. 13). Alt geht von der Überlegung aus, daß die Literatur Franz Kafkas auch die Linien seiner Biographie festgelegt hat; Kafka habe im Leben die Literatur nachgeahmt; hierzu bringt der Autor im Laufe der Darstellung immer wieder Beispiele. Kafkas Schreiben wiederum war bestimmt von einem Ich-Entwurf des 'ewigen Sohnes', wie die Biographie ja auch im Untertitel heißt. Man könne Kafka einen 'ewigen Sohn' nennen, der seine Furcht vor dem Vater mit obsessiver Lust kultiviert, weil sie für ihn die Bedingung seiner Existenz bildet. Diese Konstellation bezeichnet ein Lebensprinzip, das Kafkas künstlerische Identität ebenso wie sein - von ihm selbst so empfundenes - Scheitern in der praktischen Wirklichkeit begründet' (S. 15).
Neben dieser persönlichen Grundkonstellation ist Kafkas Schaffen freilich eingebettet in die geistigen und politischen Strömungen seiner Zeit und in ein Überlieferungsgeschehen, das Alt durch die beiden Begriffe 'Mythos' und 'Moderne' erschlossen sieht. In die Strömungen der Zeit bettet Alt in der Folge Leben und Schaffen - eigentlich sollten diese Begriffe hier andersherum verwendet werden - bravourös ein. Große Teile seiner Studie widmet Alt auch dem privaten Kafka, seinen Freundschaften, seiner Sexualität. Er revidiert das verbreitete Bild eines ängstlichen Einsiedlers, das Kafka später von sich selbst entwirft, schildert etwa detailliert die Reisen des jungen Autors.
Zu jedem der mannigfachen Unterthemen gibt es Exkurse: Ob Zionismus oder Chassidismus, ob jiddisches Theater oder die Entstehung des Kinos: stets präsentiert sich Peter-André Alt dem Leser als gelehrter Autor, der über jedes auch nur am Rande behandelte Thema gut informiert ist. Bei der Vielfalt der Themen sind jedoch manchmal auch Fehler im Detail, so schreibt Alt, im Mai 1942 seien in Lodz im Zuge von Massenerschießungen 11.000 Juden ermordet wurden (S. 60) - in Lodz wurden keine Massenerschießungen durchgeführt, die Nationalsozialisten deportierten die Menschen in das Vernichtungslager Kulmhof und ermordeten sie dort.
Die dominante Bedeutung des Schreibens im Leben Kafkas zeigte nicht zuletzt die Art der langjährigen Beziehung zu Felice Bauer, die letztlich zum Scheitern verurteilt war. Kafkas Briefe an seine Verlobte bezogen sich, so Alt, 'auf ein Traumbild, das seine Vorstellungskraft ersonnen hatte' (S. 266) und so war das Schreiben auch die 'einzige Form, in der Kafka Felices Anwesenheit erträgt' (S. 272).
Alt verknüpft unentwegt Leben und Schreiben und widmet den Texten Kafkas breiten Raum, unterzieht sie einer sorgfältigen Analyse. Das Schreiben ist für Kafka ein 'Ersatz religiöser Erfahrung', er hatte selbst das 'Schreiben als Form des Gebets' bezeichnet (S. 586). Am Ende seines Lebens erfährt Kafka im Verhältnis zu Dora Diamant eine Art der Beziehung, die nicht von der Literatur gesteuert wird; er lebt mit ihr zusammen in Berlin, bevor seine fortschreitende Krankheit den 'ewigen Sohn' im März 1924 zur Rückkehr in sein Elternhaus zwingt. Es ist jedoch Dora, die bis zu seinem Tode im Sanatorium wenige Monate später bei ihm weilt.
Alt bettet Kafkas Biographie sorgfältig ein in eine Darstellung der wechselvollen Geschichte Prags, in eine Geschichte der Strömungen innerhalb des Judentums im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, in die Geistesgeschichte dieser Zeit. Die Biographie, die daraus entsteht, ist vielschichtig und klug - ihr sind viele Leser zu wünschen.