Das wohltemperierte Gehirn
Wie Musik im Kopf entsteht und wirkt

Wir erleben heute einen neurowissenschaftlichen Boom: Die Hirnforschung versucht nahezu alles, was der Mensch leistet ' von der Wahrnehmung bis zur Krankheit, von der Kreativität bis zur Kriminalität ' zu erkunden. Diese Aufsatzsammlung ist hervorgegangen aus Vorträgen, die der Verfasser, Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt am Main, gehalten hat. Sie vermittelt einen umfassenden Einblick in die Neurologie und Neurobiologie. Hier stehen gegenwärtig Fragen nach dem Bewußtsein sowie der Identität und Selbstbestimmung des Menschen sowie die Frage, wieweit kognitive Prozesse eine objektive Wahrnehmung der Welt ermöglichen, im Mittelpunkt, Fragen also, warum sich unsere persönliche Welterfahrung von einer wissenschaftlichen Interpretation der Welt unterscheidet.
Das zentrale Anliegen des Verfassers ist, darauf eine Antwort zu geben. Dabei vergleicht er Ergebnisse der Wahrnehmungsforschung (Hirnforschung) mit lebensweltlichen Erfahrungsberichten. In den Aufsätzen wird zunächst ein Überblick über ' 50 Jahre Hirnforschung in der Max-Planck-Gesellschaft' gegeben. Dann werden Fragen geklärt, wie der Mensch lernt und wie dabei die evolutionäre Entwicklung sowie Umwelteinflüsse eine entscheidende Rolle spielen. Schließlich werden Bezüge bzw. Zusammenhänge der Hirnforschung mit einzelnen Wissenschaftsdisziplinen (Geschichtswissenschaft, Naturwissenschaft, Ästhetik) untersucht. Besonders schwierige Fragen stellen sich bei kreativen Prozessen, z.B. bei der künstlerischen Betätigung des Menschen: Wie 'arbeitet' das menschliche Hirn, wenn eine künstlerische Leistung vollbracht wird? Die Antwort lautet: '…indem in einem reflexiven Prozeß neue Bezüge bzw. neue Wirklichkeiten entdeckt und symbolisch verdichtet werden'. Bemerkenswert finde ich, daß dabei wieder auf das alte anthropologische Schema der primären (elementaren) und sekundären (geistigen) Bedürfnisse zurückgegriffen wird. Man könnte sich dabei erinnern an M. Hagners Kritik (an der Hirnforschung), es sei alles schon einmal dagewesen. Das Literaturverzeichnis macht deutlich, daß Hirnforschung heute vor allem im angloamerikanischen Raum angesiedelt ist.
Warum stimmt uns Musik fröhlich? Warum gefällt mir diese Musik ' warum jene Musik nicht? Kann man Menschen mit Musik heilen? Die Antwort auf diese Fragen lautet in Das wohltemperierte Gehirn, weil unser Gehirn auf musikalische Eindrücke in bestimmter Weise reagiert und spezifische Reaktionen und Empfindungen auslöst. Forschungsmethodisch wird dabei bewußt breit, d.h. interdisziplinär angesetzt ' musikwissenschaftlich, psychoakustisch, neurophysiologisch, paläontologisch ' um von einer Vermutungsebene wegzukommen und möglichst präzise Ergebnisse zu vermitteln. Gelegentlich stört dabei ein positivistischer Akzent, was aber wiederum beim kundigen Leser auch eine klärende Hilfe darstellen kann, zumal immer wieder dafür auch praktische Beispiele angeführt werden.
Dieses Buch ist vor allem Musikpädagogen zu empfehlen, aber auch hintergründig interessierten Musikliebhabern. Komplexe Sachverhalte, wie Wahrnehmung und Wirkung von Musik, werden anschaulich und oft spannend zu lesen dargestellt. Dieses Buch ist mit Begeisterung geschrieben: 'Unser Innenohr ist sozusagen die Konzerthalle, wo Tausende von Nervenzellen die Rolle des Publikums übernehmen und der Musik lauschen'.
Zunächst wird gezeigt, zu welcher Leistung das menschliche Ohr in der Lage ist und welche Gehirnregionen bei der Verarbeitung von Geräuschen und Tönen beteiligt sind. ' Es wird dann erklärt, was unser Gehirn leistet, welche Prozesse ablaufen, wenn ein musikalisches Werk komponiert oder aufgeführt wird (z.B. musikalisches Zusammenspiel, ständige Hörkontrolle, Lesen und Interpretieren von Notentexten).
Dann wird die Entwicklung der Musik von der Schallschwingung bis hin zur Sinfonie verfolgt; wir erfahren also, wie das Gehirn lernt, Melodien, Harmonien und Rhythmen wahrzunehmen und stilistisch einzuordnen. ' Musikalische Aktivitäten sind nicht nur ästhetisch, sondern immer auch kulturell und sozial bedingt. Es wird dargestellt, welche Funktionen Musik bei Naturvölkern und in unserer gegenwärtigen Musikkultur hat und welche Erwartungen an sie gestellt oder von ihr erfüllt werden müssen.
So wird versucht, nahezu alles, was mit Musik zu tun hat, neurologisch bzw. hirnphysiologisch zu erklären. Bei solcher Materialfülle kann man als Leser leicht den Überblick verlieren; leider hilft da der teilweise unvollständige Sachindex auch nicht immer weiter. Außerdem stört eine unklare Begrifflichkeit, was aber zum Teil auch auf die Übersetzung zurückzuführen ist. Hat man sich aber der Mühe unterzogen, das Buch eingehender zu studieren, womöglich noch einmal neu zu gliedern, so ergeben sich immer wieder faszinierende Einblicke in ein zuvor nicht gekanntes Netzwerk musikalischer Zusammenhänge.