Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland ...

Vor sechs Jahren gab Michael A. Mayer im Auftrag des Leo Baeck Instituts eine vierbändige Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit heraus. Nun liegt hierzu gleichsam die alltagsgeschichtliche Ergänzung vor. Wiederum im Auftrag des Leo Baeck Instituts ist Marion Kaplan, Professorin für jüdische Geschichte an der New York University, Herausgeberin des Bandes, der 'Emotionen, Wahrnehmungen und Mentalitäten' (S. 9) von deutschen Juden in den Mittelpunkt stellt. Die wechselvolle Geschichte der jüdischen Minderheit im deutschsprachigen Raum wird anhand einzelner Lebensgeschichten erzählt, das Individuum rückt in den Mittelpunkt.
Auch hier zeichnet ein internationales Team renommierter Historiker für die einzelnen Epochen zuständig. Robert Liberles (Beer-Sheva/Jerusalem) untersucht die Zeit von 1618 bis 1780, Steven M. Lowenstein (Los Angeles) die 'Anfänge der Integration' (1780-1871) und Marion Kaplan die 'Konsolidierung eines bürgerlichen Lebens im kaiserlichen Deutschland' bis 1918. Trude Maurer (Göttingen) unternimmt den gewagten, gleichwohl gelungenen Versuch, die Lebenswelt der deutschen Juden in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus zusammenhängend zu erzählen. Sie benennt einleitend das Entscheidende: 'An die Stelle des Alltags trat der permanente Ausnahmezustand.' (S. 347) Genau diese Entwicklung wird durch die gemeinsame Darstellung sehr deutlich, allerdings rückt durch sie gerade die Weimarer Zeit stark in den Hintergrund, die sich doch durch eine ungeheure kulturelle Vielfalt im deutschen Judentum auszeichnete. Zu überwältigend erscheint dagegen die Entwicklung nach 1933, die Maurer eindringlich schildert ' eben mit dem oft vernachlässigten Blick auf diejenigen, gegen die sich die NS-Politik richtete.
Der Band behält für alle Zeitabschnitte eine einheitliche Gliederung bei. Der Schilderung der Umwelt der jüdischen Minderheit, also wo und wie sie gelebt haben, folgt die Untersuchung des Familienlebens, der Kindheit und des Bildungswesens, des Wirtschafts-, des religiösen Lebens sowie der sozialen Beziehungen untereinander, aber auch zu der sie umgebenden christlichen Mehrheitsgesellschaft.
Diesem Muster folgend schildern die Autoren das jüdische Leben, das sich zumeist im Spannungsfeld zwischen Akkulturation und Selbstbehauptung bewegte, und zeichnen die Entwicklung des deutschen Judentums mit all ihren Brüchen und Ungleichmäßigkeiten nach. Sie zeigen aus der Perspektive 'von unten', wie deutsche Juden ihre jeweilige Situation selbst beschrieben und interpretierten sowie die daraus folgenden Entscheidungen. Tagebücher und Memoiren bilden die Hauptquelle; sie werden zumeist rein illustrativ verwendet, Entstehungszeit und -grund sowie Interpretationen der Vergangenheit seitens der Verfasser spielen keine Rolle. Einschränkend muß vielleicht bemerkt werden, daß das Ziel, die Geschichte der 'gewöhnlichen, kleinen' Leute zu schreiben, insofern nicht ganz gelingen kann, als es ja eine bestimmte, gebildete Schicht war, die zur Feder griff und aus deren Perspektive diese Geschichte nun verfaßt wird. Da der Umfang der Quellen stark variiert, können die Autoren mitunter nur Einzelbeispiele bringen und sind daher stets behutsam in ihren Interpretationen, hüten sich vor Verallgemeinerungen.
Die Herausgeberin betont: 'Die Geschichte des Alltags erlaubt uns, private, persönliche, oft verborgene Reaktionen zu erkennen.' (S. 10) Und dies gelingt in der vorliegenden Darstellung zweifellos. Die deutsch-jüdische Geschichte erscheint so nicht allein als diejenige einer Minderheit, die von einer feindlich gesinnten Mehrheit umgeben war; das deutsch-jüdische Verhältnis war viel komplexer. Alle Teile der Darstellung machen vor allem eines deutlich: Deutsche Juden waren in allen Phasen der hier behandelten Zeit aktiv Handelnde, trafen Entscheidungen, beeinflußten ihre Geschichte. Diese scheinbar simple Feststellung droht allzu oft von einer von Auschwitz ausgehenden rückblickenden Interpretation verdrängt zu werden.