Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht

Statt einer revolutionären Abrechnung mit dem DDR-Unrecht wurde als Folge der friedlichen Revolution in über 60.000 Ermittlungsverfahren, die sich gegen ungefähr 100.000 Beschuldigte gerichtet haben dürften, in wenigen Jahren eine strafrechtliche Aufarbeitung dessen versucht, was in 40 Jahren an Unrecht geschehen war. In einer Fülle von Publikation wurde dieser Aufarbeitungsprozeß analysiert, eingeordnet und bewertet. Zumeist handelt es sich jedoch um thematisch begrenzte Studien. Mit der vorliegenden Arbeit, in der wesentliche Ergebnisse der ersten Projektphase eines von der VW-Stiftung geförderten Projekts 'Strafjustiz und DDR-Vergangenheit' vorgelegt werden, wird eine beeindruckende Gesamtschau der einschlägigen Strafverfahren präsentiert.

Nur in rund 1 % der Ermittlungsverfahren - ca. 700 Verfahren - wurde Anklage erhoben oder ein Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls gestellt. Diese Verfahren wurde im Projekt erfaßt und ausgewertet, so daß auf diese Weise eine umfassende Sichtung aller bisherigen veröffentlichten und unveröffentlichten Urteile und verfahrensbeendenden Entscheidungen der Gerichte erfolgte, wobei insbesondere auch Nichteröffnungs und Einstellungsbeschlüsse, Anklageschriften und Revisionsbegründungen einbezogen werden konnten. Auf der Basis dieses Materials wird im ersten Teil über das Deliktsspektrum, das den Strafverfolgungsmaßnahmen zugrunde lag, informiert und nach folgenden Deliktsgruppen geordnet: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, Wahlfälschung, Rechtsbeugung, Denunziation, MfS-Straftaten, Mißhandlungen in Haftanstalten, Doping, Amtsmißbrauch und Korruption, Wirtschaftsstraftaten und Spionage. In einem ersten Schritt werden jeweils die zeitgeschichtlich bedeutsamen rechtstatsächlichen Feststellungen der Justiz herausgearbeitet, in einem zweiten Schritt werden die strafrechtlichen Fragen, die gerichtlichen Antworten sowie die Auffassungen in der rechtswissenschaftlichen Literatur dargestellt. Auch für die Zeitgeschichte ist diese Aufbereitung wichtig, denn die hohen Anforderungen des strafgerichtlichen Beweisverfahrens verleihen den festgestellten Urteilssachverhalten besonderes Gewicht.
Im zweiten Teil wird die Verfahrenspraxis auf der Grundlage sowohl von Auskünften durch die zuständigen Justizbehörden als auch von eigenen Erhebungen untersucht. Einbezogen wurde auch die Strafverfolgung in der Endphase der DDR. Da keine zentrale Ermittlungsbehörde (etwa nach dem Vorbild der Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischen Unrechts) geschaffen wurde und auch keine zentrale statistische Erfassung erfolgte, wurden die bis Ende 1997 von den Schwerpunktstaatsanwaltschaften der neuen Länder - wegen des strafprozessualen Tatortprinzips waren die Staatsanwaltschaften in den alten Bundesländern, von Spionagedelikten abgesehen, kaum beteiligt gewesen - an das jeweilige Justizministerium gegebenen Berichte ausgewertet. Die Mehrzahl der eingeleiteten Ermittlungsverfahren ist danach erledigt. Die unterdurchschnittlich niedrige Anklagequote von ca. 1 % scheint deliktsstrukturell bedingt zu sein, denn offenbar betrafen gut zwei Drittel der Verfahren den Tatvorwurf der Rechtsbeugung.

Im dritten Teil versuchen die Autoren eine abschließende Bewertung des strafrechtlichen Aufarbeitungsprozesses und der Verfahrenspraxis. Gegenüber der Grundsatz- wie Detailkritik an der strafrechtlichen Verfolgung von DDR-Unrecht, die bekanntlich in dem Vorwurf der 'Siegerjustiz' gipfelt, kommen die Autoren auf der Grundlage ihrer umfassenden Materialauswertung zu folgendem Ergebnis: 'Das Reden von der ‚Siegerjustiz‘ leugnet die Tatsachen und verharmlost das geschehene Unrecht' (S. 253). 'Die ‚Besiegten‘ profitierten von den Bewertungsmaßstäben des ‚siegreichen‘ Systems' (S. 251). Zusammenfassend halten die Autoren fest: Strafurteile sind 'wichtige Mittel gegen Verdrängen, Verleugnen und Verklären der historischen Tatsachen' (S. 260). Deshalb wird, wer sich dem DDR-Unrecht beschäftigen will, an diesem Buch nicht vorbeikommen können.