Rechts- oder kriminalpolitische Argumente innerhalb der Strafgesetzesauslegung und -anwendung

Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um eine im Wintersemester 1998 / 99 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in Kiel angenommene Dissertation. Der wissenschaftliche Titel der Arbeit verrät nur dem Kenner, daß hier eine Grundsatzfrage der Strafgesetzesauslegung und -anwendung aufgeworfen wird. 'Rechts-' und 'kriminalpolitische Argumente' sind üblich und weit verbreitet. Was genau ist aber ihr Inhalt, wie fügen sie sich ein in den Kanon akzeptierter Auslegungsregeln; sind sie überhaupt zulässig bzw. unter welchen Voraussetzungen sind sie zulässig? Dies sind die Fragen, mit denen sich die Arbeit beschäftigt und auf die sie eine Antwort zu geben versucht.

Anhand einer Reihe von Einzelbeispielen, in denen rechts- oder kriminalpolitische Argumente verwendet werden, analysiert der Verfasser zunächst den Inhalt derartiger Argumente und geht der Frage nach, ob sie eher strafeinschränkend oder strafbarkeitserweiternd eingesetzt werden. Er stellt fest, daß es 'das' rechts- / kriminalpolitische Argument oder 'die' rechts- / kriminalpolitische Argumentation in dem Sinne, daß erstens darunter jeweils derselbe Aspekt in die Diskussion eingeführt werden würde, nicht gibt, daß zweitens vielfach unklar ist, was der jeweilige Autor / Interpret genau mit 'Rechts-' oder 'Kriminalpolitik' gemeint hat, daß drittens die Zielrichtung sowohl strafbarkeitseinschränkend als auch -erweiternd sein kann, daß viertens die Aspekte, auf die unter rechts- oder kriminalpolitischem Vorzeichen verwiesen werden, zumeist einen sehr hohen Abstraktionsgrad (z. B. schuldangemessene Strafe, innerer Frieden, generalpräventive Wirkung) aufweisen, weshalb fünftens die gedankliche Nachvollziehbarkeit des Arguments nur beschränkt möglich ist. Dies führt Bahlmann zu der (von mir geteilten) Annahme, 'rechts-' oder 'kriminalpolitische' Argumente seien ein Etikett für die eigene Meinung des jeweiligen Interpreten vom gewünschten Rechtszustand. Von hier aus stellt sich ihm folgerichtig die weitere Frage nach der Zulässigkeit der eigenen Meinung des jeweiligen Interpreten bei der Strafgesetzesauslegung und -anwendung. Ausgehend von rechtstheoretischen Erkenntnissen legt der Verfasser zunächst zutreffend dar, daß die Rechtsfindung sich nicht in einem logisch-deduktiven Vorgehen erschöpft, daß vielmehr Entscheidungsspielräume selbst bei strikter Anwendung des allgemein anerkannten methodologischen Regelwerks verbleiben. Die damit festgestellte subjektive Prägung der Rechtsfindung, die unausweichlich in einen rechtsschöpferischen Akt übergeht, hat freilich ihre Grenzen, insbesondere solche verfassungsrechtlicher Art. Denn die Rechtsprechung ist an 'Gesetz und Recht' gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG), Strafgesetze müssen gesetzlich bestimmt sein (Art. 103 Abs. 2 GG). Diese und weitere verfassungsrechtliche Fragen werden eingehend diskutiert. Die vermittelnde, diesen Konflikt auflösende Antwort des Verfassers besteht darin, die eigene Meinung des Interpreten vom wünschenswerten Rechtszustand unter methodologischen als auch verfassungsrechtlichen Aspekten dann und nur dann als zulässig zu betrachten, wenn erstens dieses Vorgehen offengelegt wird, also deutlich gemacht wird, daß die Beantwortung der Auslegungsfrage unter Rückgriff auf die eigene Meinung vom gewünschten 'Soll'-Zustand erfolgt, und wenn zweitens detailliert nachgewiesen wird, daß dieser Rückgriff erforderlich ist, weil insbesondere die traditionellen Auslegungsregeln zur Beantwortung der Auslegungsfrage unergiebig waren. Bahlmann ist darin zuzustimmen, daß ohne die von ihm geforderten Nachweise der Erforderlichkeit und Offenlegung eine rationale Auseinandersetzung mit juristischen Entscheidungen unmöglich ist. Auch wenn zu befürchten steht, daß diesen Forderungen in der Alltagspraxis nur in geringem Maße entsprochen werden wird, so bleibt doch eine Erkenntnis: 'Rechts'- oder 'kriminalpolitische' Erwägungen werden nach Lektüre dieser Arbeit mit anderen Augen gesehen werden, nämlich als vielfach nur scheinobjektive Sätze, mit denen eine subjektive Stellungnahme maskiert wird. Insofern hat die Arbeit einen nicht zu unterschätzenden aufklärerischen Wert.