Zur Botschaft des Neuen Testaments gehört der Hinweis auf das Jüngste Gericht für alle Menschen. Die klassische Quelle dafür ist Jesu Ankündigung des Endgerichtes in Mt 25,31 - 46, die in den synoptischen Evangelien ergänzt wird durch Jesu Beschreibung der Endzeit mit ihren Schrecken, Greueln, Anfechtungen und Bedrängnissen (Mt 24; Mk 13; Lk 21). Die Apostel nehmen in ihren Briefen diese Zukunftsfakten mehrfach auf, und die Johannes-Apokalypse schildert in variablen Bildern die Endzeit. In den drei Hauptsymbolen der christlichen Kirche (Symbolum Apostolicum, Symbolum Nicaeno-Constantinopolitanum, Symbolum Athanasianum) wurde dann das Jüngste Gericht für den christlichen Glauben festgeschrieben.
Das Jüngste Gericht ist Teil der Heilsgeschichte und steht in engstem Zusammenhang mit der Wiederkunft Christi und der Vollendung von allem: 'usque ad finem et consummationem omnium'. Hier ist gleich anzumerken, daß die Johannes-Apokalypse in der Bildgeschichte des Weltgerichts keine Rolle spielt, was fälschlicherweise oft angenommen wurde. Sie ist ein eigenes Bildprogramm mit einem eigenen Duktus und einer eigenen Zielsetzung!
Mit Recht läßt sich für die Bildende Kunst annehmen, daß die Illustration der Scheidung zwischen Schafen und Böcken im vierten Jahrhundert eine Vorform für das Gericht nach Mt 25 ist, die dann offensichtlich zum Bildprogramm von San Apollinare Nuovo in Ravenna (520 / 25) gehört. Aus Byzanz kommt zweifelsohne als vorbereitendes Gerichtsbild die 'Deesis', jene Gruppe mit Maria und Johannes als Interzessoren rechts und links des thronenden Christus.
Die eigentlichen Gerichtsdarstellungen dürften anfänglich zwischen 750 und 950 anzusetzen sein, die ältesten erhaltenen gehen im Westen auf die Jahre nach 800, im Osten auf den Beginn des zehnten Jahrhunderts zurück. Generell umfaßt das Gerichtsbild im Westen mannigfachere Aspekte als das im Osten. Geblieben ist allerdings davon nur die Auferstehung des Fleiches (Leibes) in Gestalt kleiner (nackter) Menschen.
Das Weltgericht in der Graubündener Kirche (Schweiz) - für uns die älteste Dokumentation - hat zwei sehr seltene Motive, die in späterer Zeit fast völlig verschwunden sind: den eingerollten Himmel und den Christus, der am Himmel einherschreitet, um auf dem Thron Platz zu nehmen. In Frankreich findet sich die Weltgerichtsdarstellung vornehmlich in den Portalen der bedeutenden romanischen und der meisten gotischen Klosterkirchen und Kathedralen. Ein wiederkehrendes Motiv ist hier 'Abrahams Schoß', dem gegenüber die Hölle und die sich der Verdammten bemächtigenden Dämonen stehen. Cum grano salis ist die Ikonographie der Weltgerichtsdarstellungen in Spanien, Deutschland und England die der in Frankreich entsprechenden. Italien hingegen kann mit einigen (auch flächenmäßig) großen Werken aufwarten: Sant'Angelo in Formis, das Baptisterium von Florenz in seiner gesamten Kuppelzone, die Arenakapelle zu Padua (Giotto). Hinzu kommt ein völlig aus dem Rahmen fallendes Tafelbild mit dem Weltgericht aus der Vatikanischen Pinakothek. Es handelt sich um ein in fünf Register eingeteiltes Tondo aus Holz von 2,42 m Durchmesser. Seine Gesamthöhe (mit Predella) beträgt nahezu drei Meter. Es wird auf den Anfang des zwölften Jahrhunderts datiert.
Das Weltgericht als Abschluß des Sechstagewerks der Schöpfung gilt als Sonderform seiner Ikonographie, und die Übergabe der Gewänder an die Gerechten und die Auserwählten ist nur vereinzelt nachweisbar.
Im Westen liegt der Höhepunkt der Weltgerichtsdarstellung zwischen 1200 und 1350. Anschließend wird sie mehr und mehr zur Quelle privater Frömmigkeit. Ab dem 14. Jahrhundert vermehren sich die Tafelgemälde und Retabeln, die dem Weltgericht gewidmet sind. Generell verliert diese Thematik an Bedeutung zugunsten der Kreuzigung im Rahmen von Szenen aus der Passion Christi, mit der zunehmenden Marienverehrung auch zugunsten der Maestà und der Marienkrönung. Interessant ist allerdings, daß schon um 1230 das Motiv des Weltenrichters Christus in den 'Bibles moralisées' durch die Krönung der Ecclesia abgelöst wird.
In den letzten 100 Jahren sind einige gute Arbeiten über die Darstellung des 'Jüngsten Gerichtes' in der Kunst erschienen (P. Jessen, 1883; G. Voss, 1884; v. d. Mülbe, 1911; H. Schrade, 1926; M. Cocaganc, 1955; D. Milosevic, 1963). Die hier vorliegende von Yves Christe (seit 1984 o. Professor für mittelalterliche Kunstgeschichte an der Universität Genf) stellt eine wesentliche Weiterführung des bisherigen Forschungsstandes dar. Christe berücksichtigt hinsichtlich der ikonographischen Entwicklung des Weltgerichtsbildes (v. 9. - 15. Jh.) in äußerst kenntnisreicher Weise die theologischen und theologiegeschichtlichen, die liturgischen und liturgiegeschichtlichen, die geistes- und ideengeschichtlichen Zusammenhänge. Das erweist sich als unbedingt erforderlich und führt ihn zu neuen Einsichten und zu neuen Beurteilungen. Die Bildauswahl ist optimal und vom Verlag in einem wirklich guten Druck herausgebracht. Eine in jeder Hinsicht ausgezeichnete Veröffentlichung!