Die digitale Gegenwart hat das Lesen verändert und wird dies auch weiter tun. Vielfach wird befürchtet, dass dies gar ein ‚Ende der Kulturtechnik des Lesens‘ oder eine Verdrängung des gedruckten Buches bedeuten könne. Andere hingegen sehen die digitalen Medien im positiven Sinne als eine Erweiterung und Ergänzung der bestehenden Lesemöglichkeiten und Leseerfahrungen. Der vorliegende Sammelband, der auf Vorträgen der Göttinger Tagung im Herbst 2016 „#Lesen. Transformationen traditioneller Rezeptionsprozesse im digitalen Zeitalter“ beruht und neben überwiegend deutschsprachigen Beiträgen auch einige englischsprachige enthält, möchte daher die neu entstandenen Bereiche des Lesens untersuchen. In vier Kapiteln werden sowohl die Formen, die Akteure als auch die Orte und Zeiten des Lesens im digitalen Zeitalter diskutiert. Trotz multimedialer Einbindung und erweiterten Präsentationsformen bleibe das Lesen auch weiterhin ein eher textbezogener Rezeptionsprozess, so stellen die Herausgeber dabei bereits im Vorwort klar.
Das erste Kapitel widmet sich zunächst in vier Beiträgen den digitalen Formen des Lesens. Digitale Lesemedien unterscheiden sich hinsichtlich Haptik, Räumlichkeit und Visualität grundlegend von traditionellen Lesemedien, so führen Axel Kuhn und Svenja Hagenhoff aus, was wiederrum „zu veränderten Leseprozessen und Lesehandlungen“ (S. 28) führe. Die Lese- und Leserforschung zu digitalen Lesemedien werde jedoch diesen bisher kaum gerecht. Denn digitale Lesemedien bestehen zusätzlich zum ‚Oberflächentext‘ auch noch aus einer Programmiersprache und einem Quellcode, wie Martin Stobbe anschließend ausführt. Er fragt danach, ob der jeweilige Quellcode für die Analyse digitaler Literatur relevant sei und ob Literaturwissenschaftler ihre Lesegewohnheiten und ihr Repertoire an Analysetechniken erweitern müssten. Er plädiert dafür „allgemeinere Prinzipien des Algorithmischen bei der Analyse digitaler Literaturen zu berücksichtigen, das heißt eine Procedural Literacy auszubilden“ (S. 49, Hervorhebung im Original). Denn digitale Literatur kombiniere das Erzählen konzeptuell mit den Möglichkeiten algorithmischer Verarbeitung, so dass eine Komplexitätssteigerung stattfinde. Zudem enthielten algorithmische Codes auch kulturelle und ideologische Bedeutungen, „die ohne Codelektüre mindestens unklar und teilweise sogar unsichtbar bleiben würden“ (S. 59). Dennoch, so räumt er ein, sei der Machbarkeit klare Grenzen gesetzt – schon allein, weil man sich jeweils in die konkreten verwendeten Programmiertechniken einlesen müsste und Millionen Zeilen Code studiert werden müssten. Zusätzliche, für den Leser ‚sichtbare‘ Textebenen werden aber auch durch heterogene digitale Erweiterungen von Schrifttexten geschaffen. Durch spezielle Begleitsoftware zu einem Produkt, durch Apps oder digitale Interfaces können weitere Informationen zu einem Werk bereitgestellt werden, die sich im Prozess des Lesens wandeln können, wie Peter Scheinpflug in seinem Aufsatz zu ‚augmented reading‘ – dem Lesen als multimediale Praktik im Digitalzeitalter – ausführt. Ayoe Quist Henkel stellt zwei konkrete Beispiele solcher literarischer Apps vor. Der Leser wird durch Fingerbewegung eingeladen mit dem Text zu interagieren und Text, Bilder, Musik, Film und Animation immer wieder neu zusammenzusetzen. Er wird so zu einem aktiven Gestalter des Texts. Diese Nutzung eines multisensorischen Interface, so stellt Henkel dar, hat Konsequenzen für den Leseprozess und trage dazu bei, den Kontext eines Werks und den Rezeptionsprozess des Lesers zu formen.
Das zweite Kapitel umfasst drei Artikel zum Thema ‚Akteurinnen des Lesens‘. Auch die Rolle des Autors wandelt sich im Kontext digitaler Medien, wie Renata Giacomuzzi untersucht. Autoren übernehmen zunehmend die Vermarktung selbst und nutzen dabei Kommunikationswege wie Homepages, Blogs, Facebook, Twitter oder YouTube. Die Person des Autors werde so selbst zur Ware, die Aufmerksamkeit an seiner Person steigere das Interesse am Werk, so Giacomuzzi. Es entstehe ein Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit: „Während in den fiktionalen Werken der Autor den Leser auf der Suche nach dem realen Autor offensichtlich nicht mehr abzuschütteln vermag, scheint er sich mit diesem in den medialen Auftritten auf der Basis diese Agreements ‚alles ist konstruiert und künstlich‘ zu versöhnen“ (S. 117). Fanliteratur, wie Kristina Busse untersucht, berührt ebenfalls zentrale Fragen der Autorschaft und Originalität. Das ganze Konzept von Fanliteratur basiere auf einem Verständnis von Kreativität, das erlaube, fremde Figuren und Geschichten zu ‚übernehmen‘ und zu transformieren. Hier stellen sich u.a. urheberrechtliche Fragen. Diese beschäftigen auch Thomas Ernst in seinem Beitrag zu offen verfügbaren netzliterarischen Texten, wie etwa der sogenannten Twitteratur und Online-Schreibprojekten. Im sozialen Netzwerk Twitter können Autoren auch Kürzestnarrationen (max. 140 Zeichen) veröffentlichen. Ernst fragt danach, wem diese Texte eigentlich gehören und was hier als geistiges Eigentum und urheberrechtlich zu schützendes Werk gilt. Klar ist, dass digitale und soziale Medien sowie Selfpublishing ganz neue Produktions- und Distributionsformen literarischer Texte ermöglichen und somit auch die bisher etablierten Geschäftsmodelle von Autoren, Verlagen und Buchhandel in Frage stellen.
Im dritten Teil thematisieren vier Beiträge die ‚Orte des Lesens‘. Während Raphaela Knipp kollektives Lesen in analogen und digitalen Kontexten vergleicht und ausführt, dass gemeinsames Lesen in analoger Form (etwa in Lesezirkeln oder in der Familie), bzw. der Austausch über Gelesenes, auf eine lange Tradition zurückgeht und auch in digitaler Form weiter besteht, etwa durch Plattformen wie LovelyBooks, untersucht Naomi S. Baron, wie sich die Textmenge, Textform und Form des Lesens im akademischen Kontext durch die technologischen Möglichkeiten verändert hat. Sie macht eine Tendenz aus, dass Literatur im akademischen Bereich zwar zunehmend genutzt, aber nicht umfassend gelesen werden wird und zudem vor allem solche Literatur immer mehr verwendet werden wird, die digital niedrigschwellig zugänglich ist. Christian Müller beschäftigt sich anhand einiger Studien mit der digitalen Lesekompetenz in der Grundschule und Martin Rehfeldt geht mittels einer teilautomatisierten quantitativen Inhaltsanalyse den formalen und inhaltlichen Eigenschaften von Amazon-Rezensionen nach. Rezensionen von Bestsellerromanen der Unterhaltungsliteratur sind dort, so das wenig überraschende Ergebnis, überwiegend relativ kurz, offen subjektiv und wertend, wobei die positiven Wertungen deutlich überwiegen.
Im vierten und letzten Teil widmen sich Tobias Christ sowie Friedericke Schruhl und Matthias Beilein in zwei Beiträgen den ‚Zeiten des Lesens‘. Christ beschreibt die Formen der Autor-Rezipient-Kommunikation vor und nach der digitalen Zäsur und stellt fest, dass das Lesen in den letzten 200 Jahren einerseits rasanten Zuwachs erfahren hat, jedoch gleichzeitig – notwendigerweise – der Austausch zwischen Autor und Leser immer asymmetrischer geworden ist. Mediengestützte Kommunikation erreiche deutlich mehr Rezipienten, allerdings spielten dabei direkte Begegnungen zwischen Autor und Leser immer weniger eine Rolle. Schruhl und Beileins Beitrag besteht zum einen aus einem Interview mit Silvia Serena Tschopp zur historischen Leseforschung, die unter anderem ebenfalls davon ausgeht, dass neue Techniken auch Text- und Lesegewohnheiten ändern werden. Zum anderen enthält er eine Zusammenfassung der Studie „Buchkäufer und –leser 2015. Profile, Motive, Einstellungen“ (Hg. v. Börsenverein des Deutschen Buchhandels), die Kauf- und Lesegewohnheiten sowie Lese-Motive und Genre-Präferenzen untersucht hat.
Der Sammelband konzentriert sich – wie bereits der Titel deutlich macht – auf digitale Leseprozesse und damit verbundene Veränderungen der Lesegewohnheiten. Die einzelnen Beiträge stellen jeweils kurz verschiedene Problemfelder und -aspekte vor und können diese daher notwendigerweise nur knapp skizzieren. Für weitergehendes Interesse enthält jedoch jeder Beitrag eine Bibliographie. Positiv hervorzuheben ist zudem, dass der Band auch für ‚digitale Laien‘ gut verständlich ist und wichtige Einblicke und Denkimpulse in neue Lesewelten und die damit verbundenen Anforderungen für den Leser liefert.