Ein Verbrechen ohne Namen
Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust

„Die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch ist für viele das moralische Fundament der Bundesrepublik. Diesen mit anderen Genoziden zu vergleichen, gilt ihnen daher als eine Häresie, als Abfall vom rechten Glauben. Es ist an der Zeit, diesen Katechismus aufzugeben“, behauptete A. Dirk Moses im Mai 2021 (Moses, „Der Katechismus der Deutschen, 2021. URL: https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/, Stand: 21.02.2022). Moses ist Historiker mit dem Schwerpunkt Völkermord, Erinnerung und Begriffsgeschichte. „Es scheint, als ob wir zunehmend zu Zeugen von nicht weniger als öffentlichen Exorzismen werden, die unter der Aufsicht selbsternannter ‚Hohepriester‘ den ‚Katechismus der Deutschen‘ bewachen“ (ebd.), so formuliert er weiter. Dieser ‚Katechismus‘ besteht für ihn aus fünf Überzeugungen, die die Einzigartigkeit des Holocaust, die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch, die Verantwortung Deutschlands für Juden in Deutschland sowie die Verpflichtung zu besonderer Loyalität mit Israel, den Antisemitismus als spezifisch deutsches Phänomen, das nicht mit Rassismus verwechselt werden sollte, sowie die Annahme, dass Antizionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen ist, umfassen.

Diesen Thesen Moses und den daraus folgenden Debatten um einen den Deutschen aufgezwungenen ‚Katechismus‘ und einer ‚Fetischisierung‘ des Holocaust treten Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille Steinbacher und Dan Diner in ihrem Band „Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust“ (Januar 2022) jeweils in kurzen individuellen Beiträgen sachlich fundiert und kritisch entgegen. Wie alle historischen Ereignisse und Tatsachen könne der Holocaust natürlich mit anderen Genoziden verglichen werden, betont Jürgen Habermas in seinem Beitrag „Statt eines Vorworts“ gleich eingangs. Es gebe schlichtweg kein Vergleichstabu, stellt auch Steinbacher klar. „Ein Vergleich relativiert oder verharmlost nicht, sondern macht Gemeinsamkeiten und Unterschiede sichtbar, sorgt also für Klärung und Erkenntnis, nicht für Gleichsetzung“ (S. 58). Es bedürfe auch keiner Begründung oder Rechtfertigung, Völkermorde zueinander in Bezug zu setzen. Nicht nur die Genozidforschung, der Moses angehöre, widme sich seit Jahrzehnten dem Vergleich von Genoziden, auch die historische Holocaustforschung praktiziere dies. (Hinzuzufügen ist, dass dies ebenso für die literaturwissenschaftliche Holocaustforschung gilt.) Vermieden werde müsse allerdings, dass durch Vergleiche Blindstellen entstünden und gar nicht erst in den Blick komme, was nicht in die Vergleichsanordnung passe. Die Frage sei also vielmehr, wie sinnvoll ein Vergleich sei und was er zeigen könne. Das „Empörungstheater“ und „Geschrei vom Vergleichsverbot“ (S. 65) sei wohl vielmehr „Ausdruck dessen, wie sehr die komparative und die postkoloniale Forschung inzwischen benutzt werden (und sich benutzen lassen), um zu attackieren“ (S. 65f.). Diese Attacke richte sich gegen die hart erkämpften Errungenschaften der Gedenkkultur in Deutschland.

Auch wenn das individuelle Leid aller Menschen jeweils einzigartig sowie unvergleichbar, der kollektive Tod als Phänomen der Massenvernichtung dagegen ähnlich sei, wie Saul Friedländer betont, lägen Unterschiede im historischen Kontext des jeweiligen Genozids begründet. „In diesem Sinne – und nur in diesem – ist der Holocaust besonders und tatsächlich präzedenzlos“ (S. 18), so Friedländer. Er widerlegt zudem die vieldiskutierten postkolonialen Annahmen, der Holocaust sei ein Beispiel extremer kolonialer Gewalt gewesen und Israel übe heute seinerseits eine gewaltsame Kolonialherrschaft über die Palästinenser aus. Die nationalsozialistische Zwangsarbeit sei vielmehr eine ökonomisch vorteilhafte, aber nur vorübergehende Methode auf dem Weg zur totalen Vernichtung gewesen, erläutert Friedländer. Auch die Gründung des Staates Israel könne keinesfalls als koloniale Landnahme interpretiert werden. Palästina und dann Israel sei vor 1967 vor allem „eine Zuflucht für Flüchtlinge“ (S. 26) gewesen.

Moses Erzählung, wie es zu dem behaupteten Katechismus gekommen sei, sei voller Verkürzungen und Verdrehungen, so führt Norbert Frei aus. Wer die Geschichte des Umgangs der Deutschen mit dem Nationalsozialismus und Holocaust verstehen wolle, könne sich nicht auf Entwicklungen seit dem Historikerstreit (1986/87) beschränken. Diese Kontroverse sei ihrerseits das Ergebnis „einer langen, dialektischen Geschichte von Aufklärung und Verdrängung“ (S. 37) seit Kriegsende. So sei Moses Behauptung, dass der Holocaust in Deutschland instrumentalisiert werde, „um andere historische Verbrechen ‚auszublenden‘“ (S. 36), wenig plausibel. Die überragende Aufmerksamkeit, die dem Holocaust in den vergangenen 30 Jahren in der westlichen Welt zugekommen sei, solle nach Moses nun daher relativiert werden, um ‚Platz‘ zu machen „für historiographisch und politisch bisher zu wenig beachtetet Genozide, die zeitlich vor und nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden haben“ (S. 46). Es gehe dabei allerdings nicht etwa darum, zeitgeschichtliche Bildungsarbeit in einer postmigrantischen Gesellschaft zu verbessern. Ziel sei es vielmehr, für das Gedenken an den Holocaust neue Regeln zu etablieren, indem das Ereignis als eines von vielen Genoziden und der Antisemitismus als Unterform von ubiquitärem Rassismus interpretiert würde.

Dan Diner unternimmt schließlich eine Beschreibung unterschiedlicher kollektiver Gewaltverbrechen – etwa Massaker, ethnische Säuberungen, durch Hunger verursachte Massensterben sowie Genozide – und ihre Wahrnehmungen bzw. Einordnung durch das herkömmliche Bewusstsein. Er betont, dass dem Holocaust dabei in seiner Präzedenzlosigkeit als absoluter Genozid „das Kennzeichen eines Zivilisationsbruchs“ (S. 79) zukomme, „hervorgerufen von einer fundamentalen ontologischen Erschütterung“ (ebd.). Vom Holocaust gehe ein kognitives Entsetzen aus, was den Charakter der Tat betreffe, „nämlich, das mit ihr einhergehende fundamentale Dementi sonsthin gültiger anthropologischer Gewissheiten über menschliches Handeln“ (S. 79). Den Holocaust aufgrund eines den Opfern „zugefügten ultimativen Vernichtungstodes“ (S. 79) von Kolonialverbrechen zu unterscheiden, bedeute jedoch nicht, betont er, „das jeweils erlittene Leid als ethisch verschieden zu qualifizieren und somit herabzusetzen“ (S. 79). Es gebe keine Richterskala des Leidens, das Leiden aller Menschen sei jeweils absolut.

Indem die Autor:innen des Bands die fünf Überzeugungen, die nach Moses den ‚Katechismus der Deutschen‘ bilden, aufgreifen und kritisch diskutieren, liefern sie sehr fundierte und wichtige Einordnungen zur Debatte und auch Gegenpositionen zu Moses und anderen Vertretern der Theorie, dass der Holocaust als einer von vielen in der Tradition kolonialer Genozide steht. Sie zeigen aus unterschiedlichen Perspektiven auf, dass anders als von Moses behauptet, ein Vergleichen – das nicht Gleichsetzen oder Relativieren bedeuten muss – des Holocaust mit anderen Genoziden längst möglich ist und auch innerhalb der Holocaustforschung praktiziert wird. Ebenso wichtig ist die Botschaft des Buchs, dass es bei der Feststellung der singulären Merkmale des Holocaust nicht darum geht, Erweiterungen und Ergänzungen historischer Erinnerungen grundsätzlich zu verhindern – diese müssen und werden ohnehin unweigerlich stattfinden. Die spezifische Eigenheit des Holocaust in Erinnerung zu bewahren, heißt also nicht, die politische Kultur und das Selbstverständnis der Bürger einer Nation einzufrieren.