Ko-Erinnerung
Grenzen, Herausforderungen und Perspektiven des neueren Shoah-Gedenkens

Im April 2018 fand unter dem Titel „Ko-Erinnerung. Grenzen, Herausforderungen und Perspektiven des neueren Shoah-Gedenkens“ eine Tagung des Graduiertenkollegs 1767 „Faktuales & Fiktionales Erzählen“ der Universität Freiburg statt. 2020 ist der gleichnamige deutsch- und englischsprachige Tagungsband erschienen. Maßgeblich auf der Grundlage von Michael Rothbergs Monografie „Multidirectional Memory“ (2009) werden darin verschiedene Aspekte der gegenwärtigen literarischen, medialen und kulturellen Erinnerungen an die Shoah und den Holocaust sowie an andere Genozide und staatlich organisierte Verbrechen vorgestellt. Die Debatte um die ‚Unvergleichbarkeit’ und den Singularitätsanspruch der Shoah sowie das Denken in Opferkonkurrenzen und Erinnerungshierarchien werden dabei kritisch in den Blick genommen sowie Überlegungen zu Möglichkeiten und Formen des adäquaten, nicht trivialisierenden und relativierenden Gedenkens an verschiedene historische Gewaltverbrechen angestellt. Rothberg habe, wie Henke und Vanassche im Vorwort des Bands betonen, „den Blick auf die Möglichkeit einer von Koexistenz und Dialog, von Inklusion und gegenseitiger Anerkennung geprägten globalen und multikulturellen Erinnerungskultur und -forschung freigegeben“ (S. VII).

In ihrem einführenden Aufsatz „Von der Singularitätsthese zur Ko-Erinnerung: Prolegomena zu einem Paradigmenwechsel“ ordnet Daniela Henke Versuche, die Shoah zu kontextualisieren und zu vergleichen, historisch ein und diskutiert diese kritisch. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Vergleiche anderer Genozide mit der Shoah, auch solche, die das Ziel verfolgten, die Unvergleichbarkeit herauszustellen, performativ zeigten, dass diese Ereignisse vergleichbar seien. Die Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschiede seien dabei wesenhafte Ergebnisse einer Gegenüberstellung. „Die Beharrlichkeit, mit der die Singularitätsthese in der Vergangenheit verteidigt und argumentativ unterfüttert wurde, verhindert bedauerlicherweise nicht nur wertvolle wissenschaftliche Erkenntnisse, die Vergleichsstudien erzielen könnten“ (S. 6), so Henke. Die Positionierung für eine Einzigartigkeit der Shoah, die wissenschaftlichen Debatten sehr häufig vorangestellt werde, sei auch ein Hinweis darauf, wie wenig ergebnisoffen dieser Diskurs geführt werde und verhindere „alle wissenschaftliche Unvoreingenommenheit“ (S. 7). Zusammen mit Tom Vanassche plädiert sie daher für den Terminus Ko-Erinnerung als „umbrella term und Bezeichnung für ein Paradigma, das Formen des gegenseitig konkurrenzlos anerkennenden, gemeinsamen, transnationalen und solidarischen Erinnerns umfasst“ (S. 14). Solche korrelativen Ansätze würden nicht ohne Vergleiche auskommen, „seien es Strukturvergleiche in der Forschung oder Erfahrungsbereiche in Erinnerungsdebatten“ (S. 15). Dabei werde die Shoah als Symbol und Erinnerungsemblem des 20. Jahrhunderts noch lange Maßstab und Paradigma der Debatte bleiben.

Susanne Knittel diskutiert in ihrem Beitrag zu „Figures of Comparison in Memory Studies: Singularity, Multidirectionality, Diffraction“ sowohl die Gefahren als auch die Chancen, die mit Vergleichen einhergehen. „Evidently, not to compare is not an option, but comparison carries with it a range of difficulties and dangers that must be kept in mind“ (S. 22). Nicht alle Vergleiche seien angemessen, einige sogar möglicherweise unseriös oder gefühllos, andere dagegen ermöglichten echte Einsichten. Sie setzt sich außerdem mit der Frage auseinander, was Ko-Erinnerung und multidirektionales Erinnern ist und kommt zu dem Schluss, dass Erinnerung immer auch eine gemeinschaftliche und vergleichende Anstrengung sei.

Ko-Erinnerungen in der deutschsprachigen Literatur bis 1990 widmen sich die beiden Beiträge von Sven Kramer am Beispiel von Peter Weiss‘ Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ und von Tom Vanassche, der in Edgar Hilsenraths Werk der Rhetorik des gemeinsamen Erinnerns nachgeht. Kramer erläutert unter anderem, dass in Weiss‘ Roman die einzelnen Familienmitglieder zu Träger unterschiedlicher Erinnerungsnarrative werden, die das Verhältnis des sozialistischen Widerstands zur Shoah verhandeln. „Multidirektional ist die Erinnerung an die Shoah in dieser Familie insofern, als die Mitglieder in dieser Verschiedenheit dauernd aufeinander bezogen sind, ihre Reaktionen einander beeinflussen und die Erinnerung durch die Familienkommunikation sukzessive transformiert wird“ (S. 50). Vanassche erläutert etwa, auf welche Art und Weise Hilsenrath in seinem Werk „Märchen“ den Leser einlädt, sowohl den armenischen als auch den jüdischen Genozid zu erinnern und so auch diskursive Grenzen herausfordert.

Literarische Ko-Erinnerungen in der Gegenwart werden in vier unterschiedlichen Beiträgen erörtert. Miriam Nandi untersucht die aufgrund von Globalisierung und Migration fluide und dynamische Natur kultureller Identitäten und Erinnerungen am Beispiel des postkolonialen Romans „Two Lives“ von Vikram Seth. Indem das Werk die Lebensgeschichten eines deutsch-jüdischen Überlebenden und eines indischen Kriegsveteranen der Britischen Armee nebeneinanderstellt, zeige es, so resümiert Nandi, dass die Erinnerung an koloniale Erinnerungspolitik nicht notwendigerweise die an den Holocaust blockiere, ebenso wenig sei dies andersherum der Fall. Vielmehr veranschauliche es, „that cultural memory can well be constructed along transcultural, overlapping, multidirectional lines“ (S. 95). Johanna Öttl erläutert, wie Flüchtlingskrise und NS-Erinnerung in den Werken von Norbert Gstrein und Vladimir Vertlib gemeinsam erinnert werden. Öttl geht unter anderem der Frage nach, inwieweit sich bereits narrative Muster für Literatur über syrische Flüchtende etabliert haben, und ob diese sich möglicherweise an der Literatur über die Shoah orientieren können. Anna Brod geht den Ko-Erinnerungen von Shoah und NSU-Morden in Esther Dischereits „Blumen für Otello“ nach. Als deutsch-jüdische Autorin bringe Dischereit die Opfer des NSU mit denen der Shoah und anderen Völkermorden in Verbindung, „indem sie eine Parallele in der Begründung der Morde durch die jeweiligen Täter_innen feststellt“ (S. 123). Sowohl die Opfer der Shoah als auch die vom NSU Ermordeten seien etwa nicht als Individuen wahrgenommen worden, sondern als Opfer-Kollektive. Urania Mlevski und Lena Wetenkamp stellen allgemeine Überlegungen zu „Trauma im Text“ sowie zu fiktions- und erinnerungstheoretischen Konzepten in der Literatur an. Am Beispiel von Nino Haratischwills Werk „Das achte Leben. Für Brilka“ werden diese konkretisiert.

Drei abschließende Beiträge widmen sich performativen und diskursiven Ko-Erinnerungen. Verena Arndt geht etwa Konzepten der Ko-Erinnerungen in Yael Ronens Theaterinszenierung „Common Ground“ nach. Sie zeigt, dass das Stück Ko-Erinnerungsverfahren inszeniert, indem es durch verschiedene Erinnerungen und Narrative der SchauspielerInnen aus Ex-Jugoslawien ein komplexes und vielschichtiges Bild des Konflikts präsentiert. Zudem lote das Stück „die Möglichkeiten einer multidirektionalen Erinnerung mit Blick auf den Holocaust aus und bringt so die Geschehnisse im ehemaligen Jugoslawien dem deutschen Publikum näher, ohne die Shoah dabei zu verharmlosen“ (S. 171). Rüdiger Lautmann widmet sich den „Engführungen des Erinnerns an die NS-Homosexuellenrepression und an die Shoah“. Er zeigt die Analogien und Berührungspunkte „beider Gedenkgeschichten“ (S. 175) auf – dem Massenmord an den europäischen Juden und der Verfolgung der Homosexuellen –, deren Ko-Erinnerung erst um 1970 herum begann. Erst dann wurde auch der Homosexuellenverfolgung gedacht und der Tatsache, dass Homosexuelle in den Konzentrationslagern eine eigene Häftlingskategorie bildeten. Anna G. Piotrowska geht in ihrem Aufsatz „Happy in Their Own Way, Unhappy Together: Commemorating the Romani and Jewish Holocaust in Music“ dem gemeinsamen und unterschiedlichen Holocaust-Gedenken im Hinblick auf die Verfolgung und Ermordung der Juden und der Roma nach. Obgleich die große Diversität der Juden wie der Roma in Europa bedeute, dass allzu einfache Parallelen nicht ohne zu große Generalisierungen und Vereinfachungen möglich seien, sei eine Gemeinsamkeit, dass beide in Europa als kulturell ‚fremde‘ Gruppen wahrgenommen worden seien. „It seems that the Jews and the Roma – traditionally the Others in the European culture, the European ‚enemies within‘ – share similar histories of marginalization, racialization, extermination“ (S. 203). Eine weitere Gemeinsamkeit sieht Piotrowska darin, dass sowohl jüdische als auch romanische Kultur auf einem starken musikalischen Erbe aufbaut. Musik sei für Juden wie für Roma eine Überlebensstrategie im Holocaust gewesen. Große Unterschiede macht sie darin aus, wie unterschiedlich das Holocaust-Gedenken im Hinblick auf Juden und Roma bis in die 1980er Jahre und darüber hinaus stattgefunden hat. Die Verfolgung und Vernichtung der Roma sei weitestgehend unsichtbar geblieben und marginalisiert worden.

Deutlich wird anhand der thematisch sehr vielfältigen Beiträge, dass der Begriff der Ko-Erinnerung als heuristische Kategorie zwar potenziell eine Fülle an sehr verschiedenen historischen Erinnerungen an Genozide und Gewalterfahrungen umfasst, der Begriff jedoch auch aus diesem Grund weder klar ein- oder abgegrenzt noch definiert werden kann. Problematisch ist er auch im Hinblick auf die Frage, ob in diesen Begriff die Perspektive und Erinnerung an die Täter integriert werden kann. In einer sehr gelungenen Zusammenstellung aus Beiträgen sowohl zu theoretischen Konzepten und Diskursen als auch zu konkreten literarischen und performativen Beispielen bietet der Band jedoch eine Fülle an Ideen und Denkanstößen für (weitere) Überlegungen und Diskussionen zu den Grenzen, Herausforderungen und Möglichkeiten des internationalen Gedenkens und Erinnerns an die Shoah und den Holocaust.