Im Zuge des diesjährigen Reformationsjubiläums wurde in verschiedenen Kontexten ein besonders dunkles Kapitel der protestantischen Kirchengeschichte aufgegriffen: Luthers Antijudaismus und dessen Erbe – etwa in der Wanderausstellung der Evangelisch-Lutherischen Nordkirche „Ertragen können wir sie nicht.“ Martin Luther und die Juden oder in der Sonderausstellung „Überall Luthers Worte …“ – Martin Luther im Nationalsozialismus, die die Stiftung Topographie des Terrors zeigt. In letzterer wird auch eine landeskirchlich gegründete Einrichtung thematisiert, die in der breiten Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt sein dürfte, in der wissenschaftlichen Forschung dagegen seit mittlerweile über 20 Jahren intensiv untersucht wird: das in Eisenach situierte Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben. Dieses sog. ‚Entjudungsinstitut‘ wurde im Mai 1939 auf der Wartburg von elf evangelischen Landeskirchen mit dem Ziel gegründet, alles Jüdische aus dem Christentum zu entfernen, um so einen „artgemäßen“ Glauben zu schaffen. Dabei sah man sich selbst in der legitimen Nachfolge Martin Luthers, der seiner Zeit den ersten Schritt zur „Verdeutschung“ des Christentums unternommen habe.
Nachdem sich bislang insbesondere Susannah Heschel und Oliver Arnhold eingehend mit der Geschichte des ‚Entjudungsinstituts‘ auseinandergesetzt haben, legt Dirk Schuster nun eine Monografie zum wissenschaftlichen Selbstverständnis dieser Institution vor, die auf seiner 2016 an der FU Berlin angenommenen Dissertation beruht. Der Potsdamer Historiker und Religionswissenschaftler verfolgt dabei in seiner Arbeit einen religionsgeschichtlichen Ansatz, mittels dessen er aufzeigen möchte, „wie religiöse und historische Narrative der Konstruktion einer religiösen Identität dienten“ (S. 22). Dazu stellt er zunächst den Forschungsgegenstand, die Methodik und den Aufbau der Studie vor, wobei die Ausführungen zum verwendeten Quellenkorpus sehr knapp ausfallen, die Auswahlkriterien sogar in keiner Weise erläutert werden. So bleibt z.B. unklar, weshalb die Akten des Universitätsarchivs Jena nicht in die Untersuchung miteinbezogen wurden, obwohl doch einige prominente Institutsmitarbeiter an der damals deutsch-christlich dominierten Friedrich-Schiller-Universität angestellt waren (u.a. Walter Grundmann und Wolf Meyer-Erlach).
Im kurz gehaltenen zweiten Kapitel beschäftigt sich Schuster mit der Religionswissenschaft. Denn diese damals noch junge akademische Fachdisziplin avancierte gewissermaßen zur Leitwissenschaft des ‚Entjudungsinstituts‘, bot sie doch (vermeintlich) das notwendige Instrumentarium, um ein „arisches“ Christentum wissenschaftlich legitimieren zu können. Dass dieses Institut gerade in Eisenach gegründet wurde, ist kein Zufall, sondern hängt eng mit der Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen zusammen, die sich selbst als die „SA Jesu Christi“ verstand. Schuster zeichnet die Entstehung dieser deutschchristlichen Gruppe souverän nach und arbeitet die ideologischen Bestandteile ihres Weltbildes präzise heraus. Dazu gehörten die Annahme, dass dem deutschen Volk als göttlichem „Gegenvolk“ zum Judentum eine besondere heilsgeschichtliche Stellung zukäme, eine konsequente Ausrichtung auf das Diesseits, ein radikaler Antisemitismus sowie der Glaube, dass sich allein im Nationalsozialismus der Wille Gottes für das deutsche Volk offenbare.
Die konkreten Planungen für die Einrichtung eines Instituts, welches das kirchliche Leben „entjuden“ sollte, begannen unmittelbar nach den Novemberpogromen von 1938. Der Jenaer Theologe Walter Grundmann erarbeitete in nicht einmal zwei Wochen einen Plan, der dann innerhalb eines halben Jahres in die Tat umgesetzt wurde. Schuster ordnet die Vorbereitungen zur Institutsgründung umsichtig in den zeitgeschichtlichen Kontext ein und weist mehrmals nachdrücklich darauf hin, dass diese eben nicht in einer Phase stattfanden, in der das Christentum von Seiten des NS-Regimes hart bedrängt wurde. Damit wendet er sich gegen apologetische Deutungen, die der Institutsmitgründer Grundmann selbst ins Feld geführt hatte und die von der Kirchengeschichtsschreibung vielfach übernommen wurden. Dass das Eisenacher ‚Entjudungsinstitut‘ keineswegs aus einer rein defensiven Haltung heraus im verzweifelten Abwehrkampf gegen kirchenfeindliche, neuheidnische Sekten ins Leben gerufen wurde, sondern aus der ideologischen Überzeugung der beteiligten Akteure resultierte, kann Schuster überzeugend darlegen. Überhaupt findet er immer wieder prägnante Formulierungen für seine Thesen. Doch schüttet er unnötigerweise das Kind mit dem Bade aus, wenn er durchaus existente antichristliche Strömungen und Tendenzen im (polykratischen) NS-Apparat wiederholt einseitig marginalisiert. Dabei übersieht er, dass die reale mit der subjektiv wahrgenommenen Bedrohungssituation keineswegs übereinstimmen muss. Schuster führt mehrere Beispiele an, die eine Wertschätzung des Christentums durch NS-Funktionäre sowie Hitler selbst belegen. Er unterschlägt dabei aber viele gegenteilige Äußerungen und Maßnahmen, wodurch die notwendige Differenziertheit hier verloren geht.
Dies ist aber kein generelles Manko. Bei der Analyse der wissenschaftlichen Institutspublikationen überzeugt Schusters Arbeit ebenso wie bei der Einordnung in die institutionalisierte „Judenforschung“ im ‚Dritten Reich‘. Hier zeichnete sich das ‚Entjudungsinstitut‘ als kirchliche Einrichtung durch seine (weitgehende) Unabhängigkeit gegenüber dem Staat aus, die es von anderen außeruniversitären, antisemitisch ausgerichteten Forschungseinrichtungen unterschied. Und auch wenn die Strahlkraft weitgehend auf den innerprotestantischen Bereich begrenzt blieb, so hat sie dort eine nicht zu unterschätzende Wirkung entfaltet. Die mit Abstand weiteste Verbreitung fanden die ‚entjudete‘ Bibel, die 1940 unter dem Titel Die Botschaft Gottes veröffentlicht wurde, und das ebenfalls ‚entjudete‘ Gesangbuch Großer Gott wir loben dich. Warum er in diesem Zusammenhang das dritte große Projekt des Eisenacher Instituts, den neuen Katechismus Deutsche mit Gott, der 1941 im Verlag Deutsche Christen in Weimar erschien, praktisch unerwähnt lässt, verwundert allerdings.
Umso intensiver setzt sich Schuster mit den wissenschaftlichen Publikationen auseinander, die im Kontext der Institutsarbeit entstanden. Dabei erläutert Schuster zunächst die Spezifika der den meisten Arbeiten methodisch zugrunde liegenden „Theologisch-Völkischen Religionswissenschaft“, um anschließend anhand von sieben ausgewählten Mitarbeitern verschiedener Disziplinen darzulegen, wie die ‚Entjudung‘ des Christentums mit wissenschaftlichen Mitteln betrieben wurde. Leider bleibt auch hier unklar, nach welchen Gesichtspunkten die vorgestellten Akteure ausgewählt, andere wiederum nicht in diesem Umfang berücksichtigt wurden (wie z.B. Wolf Meyer-Erlach, Georg Bertram, Erwin Brauer oder Heinz Dungs).
Erfreulicherweise verfolgt Schuster den Werdegang der betreffenden Institutsmitarbeiter auch über die Zeit nach 1945 hinaus. Auf diese Weise kann er nicht nur zeigen kann, wie bruchlos z.B. Johannes Leipoldt seine akademische Karriere nach Kriegsende an der Universität Leipzig fortsetzen konnte, sondern es gelingt ihm auch darzulegen, wie antisemitische Deutungen und Stereotype in subtilerer Form etwa in den Nachkriegsschriften von Walter Grundmann weiter tradiert wurden, ohne dass daran Anstoß genommen wurde. In diesem Zusammenhang kann Schuster an mehreren Stellen auch mit überkommenen Urteilen zu renommierten Forschern wie beispielsweise dem Theologen Rudolf Meyer aufräumen, wenn er zeigt, das nicht dessen angeblich kritische Haltung zum NS-Regime die Drucklegung seiner Habilitationsschrift verhinderte, sondern schlicht die fehlende wissenschaftliche Qualität der Arbeit.
Die insgesamt gelungene Arbeit von Schuster wird leider im Resümee durch die inhaltlich völlig verfehlte Thematisierung der Debatte um die Thesen des Berliner Theologen Notger Slenczka beeinträchtigt. Slenczka hatte in einem 2013 publizierten Aufsatz die Kanonizität des Alten Testaments infrage gestellt, was zwei Jahre später zu einer erbitterten Kontroverse führte. Schuster unterstellt Slenczka in diesem Zusammenhang, dieser gehöre zu den „paar deutsche[n] evangelische[n] Theologen“, die es sich wünschen, „‚ihr‘ Christentum endgültig ‚judenfrei‘ zu machen“ (S. 286) und kommt zu dem Schluss: „Die Idee eines ‚judenfreien‘ Protestantismus existierte weit vor dem ‚Dritten Reich‘ und ist scheinbar bis heute in Teilen präsent. Und wie seinerzeit im ‚Entjudungsinstitut‘ dienen heutzutage wissenschaftliche Beweisführungen zur Legitimation einer solchen Ansicht über ‚das Fremde‘.“ (S. 286). Slenczkas Thesen sind ohne Frage provokativ und haben inhaltlich berechtigen Widerspruch erfahren. Doch gilt es zu beachten, dass sie sich von den Arbeiten der Mitarbeiter des ‚Entjudungsinstituts‘ argumentativ, sprachlich und auch hinsichtlich ihrer Schlussfolgerungen grundlegend unterscheiden. Schuster, der hier wie auch zuvor schon „scheinbar“ mit „anscheinend“ verwechselt, stellt Slenczka dagegen in eine Kontinuitätslinie, die in dieser Form schlechterdings unangemessen ist. Umso seltsamer mutet es an, wenn Schuster die Argumentation von Slenczka bewusst ausblendet und nur dessen Schlussfolgerungen bewertet. Diese Verkürzung entspricht indes nicht dem sonstigen Niveau des vorgestellten Buches und mindert dessen Wert in Bezug auf seinen eigentlichen Gegenstand nicht. Der bemühte Aktualitätsbezug des Themas, der durch den Einbezug der Slenczka-Debatte herzustellen versucht wird, ist jedoch unnötig, die Relevanz der Arbeit für eine kritische Auseinandersetzung mit der protestantischen Kirchengeschichte, Kirchengeschichtsschreibung sowie der wissenschaftlichen „Judenforschung“ ist auch so unbestreitbar.