Bereits 1942 erschien der Bericht „Die letzten Tage des deutschen Judentums“ anonym in Tel Aviv. Herausgegeben wurde er von der gemeinnützigen Organisation „Irgun Olej Merkaz Europa“ (Organisation der Einwanderer aus Mitteleuropa), deren Ziel es war, Immigranten aus Zentraleuropa wirtschaftlich und kulturell zu unterstützen. Aus einer kurzen Vorbemerkung des Verlags geht hervor, dass der als Tatsachenbericht anonym herausgegebene Text eines Augenzeugen von einer Frau verfasst wurde. Über die Autorin des Texts erfährt man lediglich, dass diese ihn nach ihrer Emigration nach Israel Ende 1942 verfasst und veröffentlicht hat. Die Herausgeber verbürgen sich dafür, den Bericht in unveränderter Form veröffentlicht zu haben.
Dank der sorgfältigen Recherche und Bemühungen von Klaus Hillenbrand wurde nun 75 Jahre später nicht nur der Bericht als solcher wieder veröffentlicht –Hillenbrand hat auch ermittelt, wer die Verfasserin des Texts ist und holt sie so aus der Anonymität. Blanka Alperowitz war die Tochter des Schriftstellers und Herausgebers Albert Katz. Sie wurde 1883 in Fürstenwalde geboren und arbeitete ab den 1920er Jahren als Religionslehrerin in Berlin-Pankow für die Jüdische Gemeinde. Ebenso wie ihre ältere Schwester, die Ärztin wurde und 1935 nach Israel auswanderte, konnte sie studieren, was „für die Aufgeklärtheit und das Bildungsstreben der Familie Katz“ (S. 112) spricht, so Hillenbrand. Erst 1939 – mit 56 Jahre – heiratete sie den gleichaltrigen Religionslehrer und Kantor Jacob Alperowitz. Durch einen Austausch von jüdischen Zivilisten mit internierten Deutschen im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina konnte sie Ende 1942 nach Israel entkommen. Ihre Rettung verdankte sie den Bemühungen ihres Ehemanns, der bereits 1939 emigriert war, und der Jewish Agency in Jerusalem. Nach dem Tod ihres Mannes 1944 zog sie 1946 in die religiöse kooperative Siedlung Kfar Haroeh. Sie war so mittellos, dass sie öffentliche Unterstützung empfing, bis sie ab etwa 1952 Entschädigungszahlungen aus Deutschland erhielt. Sie starb 1958 im Alter von 75 Jahren in Haifa.
Die Neuherausgabe umfasst nun neben dem ursprünglichen Text – „ohne Kürzungen und Veränderungen“ (S. 15), heißt es im Vorwort des Herausgebers – auch Anmerkungen Hillenbrands zum Text, eine Rekonstruktion der Biographie von Blanka Alperowitz sowie ein Quellen- und Literaturverzeichnis. Im ursprünglichen Text seien lediglich die Zahl der Absätze der besseren Lesbarkeit wegen erhöht worden und offensichtliche Rechtschreibfehler stillschweigend berichtigt worden, so der Herausgeber. Die wenigen inhaltlichen Irrtümer, die Blanka Alperowitz aus ihrem damaligen begrenzten Wissenstand heraus aufgeschrieben hat, wurden ebenfalls belassen, werden jedoch im Anmerkungsteil des Buches ausführlich kommentiert. Denn, wie Hillebrand im Vorwort feststellt, konnte die Autorin etwa vom Massenmord an den Juden zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift nichts wissen, es ist ein Text über das, „was gut informierte jüdische Berliner 1942 von den Dimensionen ihrer eigenen Verfolgung selbst wussten, geschrieben in der Sprache der Zeit“ (S. 10).
Als zeitweise Mitarbeiterin im Katasteramt der Jüdischen Kultusgemeinde Berlin zählte Alperowitz zu denjenigen, die gezwungen waren, den Deportationsplänen der Nazis zuzuarbeiten. Ihre Aufgabe war es, die Kartothek in Ordnung zu halten, die die Berliner Juden auflistete und ihre Namen und Adressen verwaltete. Außerdem war sie daran beteiligt, die auf Anordnung der Deutschen bei der Jüdischen Kultusvereinigung abgelieferten Pelze, Woll- und Stricksachen zu ordnen und zu stapeln.
Ihre kurze, sehr sachliche und nur mit wenigen persönlichen Details versehene Darstellung der Situation der Berliner Juden im Nationalsozialismus beginnt sie mit der Pogromnacht vom 10. November 1938. Diese markiert, so die Verfasserin, einen neuen Abschnitt in der Leidensgeschichte der deutschen Juden. Diese habe noch eine Steigerung erfahren, als die Juden gleich nach Kriegsausbruch merkten, „dass Adolf Hitler sein Programm, das Judentum auszurotten und das jüdische Volk verelenden zu lassen, programmässig in die Tat umsetzte“ (S. 17).
Die Autorin hält sich bei ihren Schilderungen an keine strenge Chronologie, verortet das Berichtete aber zur Orientierung des Lesers meist zeitlich. Sie berichtet etwa von der schrittweisen Verschlechterung der Lebensbedingungen der Juden, den zunehmenden Einschränkungen ihrer Freiheiten – etwa dem Verbot, Gaststätten und Parkanlagen zu betreten oder Rundfunkgeräte, einen Telefonanschluss oder elektrische Geräte zu besitzen, ebenso wie der Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel. Ausführlich beschreibt sie die sich stetig verschlimmernden Möglichkeiten für Juden, Lebensmittel einzukaufen.
Die Verfasserin geht ebenfalls auf die Frage des Verhaltens der deutschen Bevölkerung den Juden gegenüber ein. Diese Frage könne man nicht einfach mit ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ beantworten, argumentiert sie: „Wie auf allen Gebieten sind es gerade die kleinen Erlebnisse, die sogenannten Mosaiksteinchen, die, zusammen genommen, erst ein einigermaßen klares Bild ergeben“ (S. 45). So sei die Kriegsbegeisterung im Allgemeinen nicht besonders groß gewesen, ein echter Eifer sei nur bei den fanatischen Parteigenossen und der jungen, streng nationalsozialistisch erzogenen Jugend vorhanden gewesen. Es habe befreundete ‚Arier‘ gegeben, die sich zurückgezogen hätten und solche, die einem treu zur Seite gestanden hätten. Für erstere äußert sie wiederholt Verständnis, der letzten gedenkt sie „voll Dankbarkeit“ (S. 52) und verspricht, diese nie zu vergessen.
Der Bericht schließt mit den beginnenden Deportationen im Sommer 1942 ins besetzte Polen, Theresienstadt, Lodz und Riga. Zweimal kann die Autorin einer Deportation entgehen, bis sie über Wien, Ungarn, Serbien, Kroatien, Bulgarien, durch die Türkei über Syrien nach Afuleh, von dort nach Haifa und Atlith reisen kann. Die Autorin schließt ihren Bericht mit der Hoffnung, dass ihre Ausführungen „so oberflächlich ich sie auch nur geben konnte, mit dazu beitragen, dass vielleicht ein Weg gefunden werden könnte, auf dem es möglich ist, auch ihnen Rettung zu bringen“ (S. 65).
Der Wert des Textes für heutige Leser liegt weniger in der Vermittlung der Daten und Fakten – diese sind in weiten Teilen hinlänglich bekannt. Vielmehr zeigt er zum einen, was eine Frau in Alperowitz‘ Situation inmitten der Geschehnisse über den Holocaust wusste und wie wichtig diese Berichte außerhalb Deutschlands waren. Denn nach Ausbruch des Krieges waren die meisten Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten zwischen Deutschland und Palästina unmöglich geworden. Juden in Palästina waren daher auf solche Berichte wie den von Alperowitz angewiesen. Außerdem zeigt er auch, dass Texte wie dieser, die über Jahrzehnte verschollen und allenfalls in Archiven zugänglich waren, auch Jahrzehnte nach den Ereignissen noch neue Erkenntnisse – in diesem Fall über die Identität der Autorin – bringen können. Diese Texte sind jeder für sich und in ihrer Gesamtheit ein wichtiger Teil der Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus und Holocaust und gerade in heutigen Zeiten unverzichtbar.