Es ist keineswegs eine Übertreibung wenn man behauptet, daß die Schriften der Österreicher Feministin, Soziologin, Philosophin und Kulturkritikerin Rosa Mayreder (1858-1938) heute nahezu völlig in Vergessenheit geraten sind, d.h. wenigstens in den modernen Sozialwissenschaften. Das ist schon eine erstaunliche Entwicklung, wenn man bedenkt, daß Rosa Mayreder zusammen mit Rudolf Goldscheid und einigen anderen 1907 die „Wiener Soziologische Gesellschaft“ begründet hat, und damals viel beachtete Essays und Sozialkritiken zur Lage der Frauen, zum Geschlechterverhältnis, zur Gesundheitspolitik und zum Ausbruch des ersten Weltkriegs geschrieben hat.
Aber gerade ihre Schriften zur Analyse des Geschlechterverhältnisses im allgemeinen, und zur Lage der Frauen im besonderen sind es, die Rosa Mayreder wenigstens einen nachhaltigen Ruf in der Frauenbewegung gesichert haben, und welche Mayreder, wie Mary-Ann Reiss ganz richtig schreibt, in vieler Hinsicht zur „Pionierin des österreichischen Feminismus“ gemacht haben. Aber dieser wichtigen Stellung innerhalb der Geschichte des österreichischen Feminismus wurde der wissenschaftliche Umgang mit Mayreders Schriften lange Zeit nicht gerecht, und so dauerte es etwa bis Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts das durch die Arbeit von Harriet Anderson und Hanna Bubeniček wieder eine regelrechte Mayreder Renaissance ausgebrochen ist. Nicht zuletzt die Veröffentlichung der Tagebücher Rosa Mayreders durch Harriet Anderson, aber auch von ausgewählten Schriften Mayreders durch Hanna Bubeniček, führte dann im Jahre 1989 zu einer, wenn auch späten Würdigung des Lebenswerks der Wiener Frauenrechtlerin im Rahmen einer großzügig angelegten Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien mit dem Titel: Aufbruch in das Jahrhundert der Frau? Rosa Mayreder und der Feminismus in Wien um 1900. Kurz darauf (im Jahr 1992 um genau zu sein) wurde Mayreder auch die (etwas zweifelhafte) Ehre zuteil, ihr Konterfei dem 500 Schilling Schein der Staatsbank von Österreich zu vermachen.
Aber trotz der verspäteten Wiederentdeckung und Würdigung der Person und der Schriften Rosa Mayreders, läßt sich nicht behaupten, daß dieser positive, ja beinahe enthusiastische Umgang mit ihr in Wien immer so gewesen sei, denn als Mayreders Lebenswerk im Jahre 1928 zum ersten mal geehrt werden sollte, und sie zur „Ehrenbürgerin der Stadt Wien“ gewählt wurde, erhielt sie einige Zeit später nur das „Bügerdiplom“, und das vor allen Dingen deshalb, „da sie sich offen zu ihrem jüdischen Großvater bekannt hat“ (S. 167). Rosa Mayreder war sich der nun drohenden Gefahren aus Deutschland voll bewußt, und notiert aus diesem Grund 1933 etwa völlig resigniert in ihrem Tagebuch mit Blick auf eine langjährige Freundin folgenden vielsagenden Satz: „Nun ist sie mit Leib und Seele zum ‚Dritten Reich‘ übergegangen und hat wie alle Anhänger Hitlers den Verstand verloren.“
Aber trotz der düsteren politischen Aussichten in den späten 20er und frühen 30er Jahren hat Mayreder immer an ihrem, bereits 1907 in der Kritik der Weiblichkeit formulierten humanistischen „Ideal einer höheren Menschlichkeit“, in der Mann und Frau eine gleichberechtigte geistige und körperliche Synthese bilden, immer festgehalten: „Ohne die Mitwirkung der Frau als ebenbürtiger Gefährtin ist die Gemeinsamkeit, auf der das Ideal einer höheren Menschlichkeit ruht, nicht zu verwirklichen; und der Einsatz, den das weibliche Geschlecht gemäß seiner historischen Entwicklungsbahn in die Kultur zu geben hat, bildet eine notwendige Ergänzung zur Leistung des männlichen. Es ist eine Auszeichnung des weiblichen Geschlechtes, daß es vornehmlich Frauen sind, die in der geistigen Kultur der Gegenwart das Ideal der Gemeinsamkeit vertreten; und damit ist auch die Bürgschaft gegeben, daß die Frauen dazu beitragen werden, es zu verwirklichen.“
So verwundert es auch nicht das Mayreder mit allen ernstzunehmenden geistigen Größen ihrer Zeit, allen voran Rudolf Steiner (1861-1925), regen Kontakt pflegte, und sich den drängenden philosophischen Fragen der Zeit, vor allem den durch „Richard Wagner, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche“ (S. 166) gestellten, nicht versagte. Das jedoch ihre Bekanntschaft zu Rudolf Steiner zum Beispiel nicht nur von einseitiger Begeisterung geprägt war, wie etwa Christoph Lindenberg in seiner Steiner Biographie einfach behauptet (vgl. S. 176-181), ist als These nicht zu halten, denn Rosa Mayreder selbst schreibt dazu etwa: „Nach dem Erscheinen des von mir handelnden Abschnittes seiner Autobiographie wurde mir das ‚Goetheanum‘ allwöchentlich mit den Fortsetzungen dieser Autobiographie zugesendet; der Eindruck des Unaufrichtigen, Schönfärberischen, Zurechtgemachten ließ mich daran so kühl wie seine ganze Persönlichkeit. Daß er so eine starke Wirkung auf viele Tausende ausübte, bleibt mir nach wie vor unbegreiflich.“ (S. 161)
Das Mayreder jedoch eine völlig eigenständige Denkerin und Philosophin von bisher ungeahnter Tiefe war, beweist auf eindrucksvolle Weise nicht zuletzt der nun vorliegende Band Askese und Erotik, der drei späte Essays vom Ende der 20er Jahre dokumentiert und zum ersten mal in dieser Zusammenstellung veröffentlicht. Alle drei Essays haben im Grunde eine Vision gemeinsam, und das ist die Erreichung des „Ideals der höheren Menschlichkeit“ mit Hilfe der (1) limitierten Form der Askese in der Erotik von Mann und Frau, welche die gemeinsamen Produktivkräfte bündelt und gleichzeitig erhält, mit Hilfe des (2) Ideals der synthetischen Liebe von Mann und Frau, die auf der Idee der Wesensverschmelzung und der geistigen Verbundenheit der Seelen von Mann und Frau beruht und die in der Dauer und der Treue der Beziehung feste Wurzeln schlägt, und schließlich mit Hilfe des (3) Ideals der synthetischen Liebesehe verwirklicht wird.
Alle der im vorliegenden Band versammelten Aufsätze Mayreders zielen somit auf die Vollendung der Gleichberechtigung von Mann und Frau, in der alle Grenzen der Trennung zwischen ihnen gefallen sind und eine erfolgreiche Synthese ihrer verschiedenen Anteile das „Ideal einer höheren Menschlichkeit“ möglich macht. Auch wenn das natürlich eine recht naive Vision der menschlichen Psyche und Entwicklung darstellt, so ist jedenfalls Mayreders bereits 1907 in der Kritik der Weiblichkeit formulierte Grundthese ihres Schaffens von bestechender Richtigkeit: „Man wird erst wissen, was die Frauen sind, wenn ihnen nicht mehr vorgeschrieben wird, was sie sein sollen.“