Das Werk

Klassiker zugänglich gemacht

Georg Simmel (1858-1918) und Ferdinand Tönnies (1855-1936) gelten zu Recht als wichtige Vertreter der frühen deutschen Soziologie, haben sie mit ihren Schriften doch in mancher Hinsicht die Grundlagen für die junge Disziplin am Ende des 19. Jahrhunderts geschaffen. Viele ihrer Texte sind inzwischen als „klassisch“ zu bezeichnen, auch wenn nicht alles, was sie geschrieben haben, sie zu „Klassikern“ macht. Manches Geschriebene ist nur aus dem Zeitgeist heraus zu verstehen und ihm auch inhaltlich so weit verpflichtet, daß seine Relevanz für die sozialwissenschaftliche Analyse heute mehr als fragwürdig erscheint. Wichtig sind diese scheinbar „obsoleten“ Schriften von Simmel und Tönnies, wenn auch nur als komplementäre Mosaiksteine im großen Panorama ihres Schaffens. Die vorliegenden Ausgaben ihrer Schriften bilden Teil eines größeren und insgesamt noch recht jungen Trends innerhalb der Sozialwissenschaften, der es zum Ziel hat, die Werke der „Klassiker der Soziologie“ für eine neue Generation von Wissenschaftlern systematisch zu erschließen. Das ist ohne Zweifel wichtig, darf aber nicht überbewertet werden, da es für die moderne Soziologie doch im wesentlichen darum geht, jenseits ihrer klassischen Texte und Positionen anzukommen, wenn sie eine bleibende Bedeutung als Forschungsdisziplin behalten will. Das kann aber freilich nicht gelingen, wenn sie sich immer nur diesseits ihrer klassischen Texte und Positionen bewegt. Trotzdem sind die beiden vorliegenden „Blicke zurück“ wichtige Referenzpunkte für die Soziologie und für ihre künftigen Schritte zu neuen Positionen, selbst wenn sie im Sinne der dialektischen Entwicklung neuen Wissens – These, Antithese und Synthese – nur als „Stein des Anstoßes“ gelten sollten.

Die CD-ROM Georg Simmel: Das Werk liefert fast den gesamten soziologischen und philosophischen Ertrag Simmelschen Schaffens. Sie gibt alle von ihm veröffentlichten Monographien, die etwa 100 wichtigsten unselbständigen Veröffentlichungen sowie etliche Texte aus dem Nachlaß in digitaler Form wieder. Dabei ist der Text seitenidentisch mit den maßgeblichen Originalausgaben und wird mit umfangreichen Anmerkungen und Materialien, die das wissenschaftliche Arbeiten wesentlich erleichtern, nützlich kommentiert. Die üblichen Werkzeuge zur Textbearbeitung, wie etwa die Druck-, Export- und Lesezeichen-Funktion sind alle vorhanden und werden noch ergänzt durch die Möglichkeit der vergleichenden Lektüre mehrerer verschiedener Textpassagen in parallelen Fenstern. Ärgerlich ist, daß die Exportfunktion auf 5 000 Zeichen beschränkt ist. Inhaltlich ist die CD-ROM jedoch durch rein gar nichts beschränkt, sondern ermöglicht einen praktischen und gut strukturierten Blick auf das Simmelsche Gesamtwerk. So kann man zum Beispiel die erste und die zweite Fassung seines grundlegenden Werkes Die Probleme der Geschichtsphilosophie miteinander vergleichen und deren inhaltliche Unterschiede nebeneinander darstellen. Am 4. November 1904 beschreibt Simmel auch genau diese Unterschiede in seinem Brief an Heinrich Rickert: Über die schwierige Umarbeitung seines Buches schreibt der Soziologe an den Historiker, daß die nur z.T. übernommen Passagen der ersten Fassung in der zweiten „einen ganz anderen Sinn bekommen [haben]. Mehr und mehr hat sich mir als die eigentliche Aufgabe ergeben: Die Überwindung des naiven Realismus der Historik, der Nachweis, daß das Erkennen nicht nur der Natur, sondern auch der Geschichte ihre Gesetze vorschreibt‘.“ Die zweite Fassung liegt in der vorliegenden CD-ROM in der von Simmel nochmals um zehn Seiten ergänzten dritten und endgültigen Auflage von 1907 vor. Schon allein an diesem Beispiel wird deutlich, wie die „wertvolle Scheibe“ einen systematischen Vergleich der beiden Fassungen des Buches sowie vieler anderer seiner Werke um einiges erleichtern kann.

Positiv ist auch anzumerken, daß auf der Liste der wiedergegebenen Publikationen eine sehr schwer zugängliche nicht fehlt, und zwar Simmels 1918 bei Klinkhardt und Biermann in Leipzig erschienene Monographie Goethe, in der sich seine lebenslange Beschäftigung mit dem deutschen Dichterfürsten widerspiegelt, und die dadurch nachhaltig die fächerübergreifende Orientierung und vielseitige Begabung dieses vielschichtigen Vordenkers der Soziologie unterstreicht. Nicht unbedingt zu erwarten, aber dennoch interessant und kurzweilig ist der multimediale Unterhaltungsteil der CD-ROM, der z.B. in einem multiple-choice Quiz das eigene Wissen über Simmel und sein Leben abfragt und somit zugleich auch spielerisch näherbringt. Gefragt wird hierbei etwa, was Simmel als das allen historischen Formen der Ehe Gemeinsame bezeichnete, und erwartungsgemäß fällt die Antwort aus der Feder des Soziologen etwas umständlich – und in gewissem Sinne auch unfreiwillig komisch – aus, denn sie lautet: „Der Fundamentalvorgang der physiologischen Paarung“. Umständlicher kann man das Wort „Sex“ kaum ausdrücken! Ferner findet sich in diesem Teil der CD-ROM, der sich bezeichnenderweise „Ein kleines Simmelsammelsurium“ nennt, eine animierte Fassung des Simmelschen „Märchens von der Farbe“ wieder, das man nicht nur lesen, sondern auch hören und sehen kann. Das ist für den wissenschaftlichen Umgang mit den Texten Simmels nicht wichtig, tut ihm aber keinen Abbruch, zumal die Aufbereitung der Fabel auch sehr originell ist.

Weniger originell, aber dafür genauso hilfreich wie die Simmel CD-ROM ist der 15. Band der TG, der im wesentlichen den Inhalt des ersten Bandes, der 1925 von Tönnies – anläßlich seines 70. Geburtstages – zusammengestellten und veröffentlichten Soziologischen Studien und Kritiken wiedergibt. Damit werden zwar Arbeiten aus einem fast vierzig Jahre umfassenden Zeitraum von 1880-1919 vorgelegt, die Tönnies selbst in dieser Anordnung zusammengestellt hat, aber der chronologischen Edition seiner Werke im Rahmen der TG wird ein ziemlicher Hieb versetzt, da es nicht darum gehen kann, die Fehler früherer Ausgaben zu wiederholen, sondern sie aufzuheben und zu beseitigen. Die Entscheidung, die Soziologischen Studien und Kritiken unverändert zu veröffentlichen, verwundert daher in erster Linie, da sie in vielen Bibliotheken einerseits genauso zugänglich sind und Tönnies’ herausgeberische Entscheidung keinen Anlaß zur Nachahmung bietet. Der Inhalt des Bandes ist dadurch zwar nicht weniger wichtig oder weniger interessant, bietet aber im wesentlichen nur bereits hinlänglich bekanntes. Hervorzuheben ist hier im besonderen der frühe Entwurf der Einleitungskapitel zu Gemeinschaft und Gesellschaft von 1880/81, und Tönnies’ Abhandlung über „Macht und Wert der Öffentlichen Meinung“ von 1923, in der er ganz im Sinne seiner Erziehungsphilosophie schreibt: „Wenn man nicht ein Ideal der Öffentlichen Meinung im Herzen trägt, so wird jede Bemühung, die wirkliche Öffentliche Meinung zu erziehen, verloren sein.“ (S. 617) Es ist also immer ein „Idealbild“, das Tönnies’ Denken prägt und das nicht zuletzt auch in seinem Theorem Gemeinschaft und Gesellschaft seinen besonderen Ausdruck findet. Nicht ohne Grund wird deshalb die „Öffentliche Meinung“ über Tönnies’ soziologisches Schaffen immer von der jeweiligen Stellung des Betrachters zu dem von Tönnies entwickelten Begriffspaar Gemeinschaft und Gesellschaft bestimmt.

Alles in allem läßt sich also festhalten, daß hier zwei sehr nützliche Handwerkzeuge zum erarbeiten klassischer soziologischer Texte und Positionen vorgelegt werden, die jedem interessierten Sozialwissenschaftler den systematischen Umgang mit den wichtigsten Texten von Simmel und Tönnies wesentlich erleichtern sollten.