Kulturkrise und die Soziologie um die Jahrhundertwende
Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland

Nietzsche als Soziologe?

Wer Friedrich Nietzsche (1844-1900) ernsthaft in die Nähe der Soziologie rückt, macht sich gleich in zwei Lagern unbeliebt: Einerseits bei den Soziologen, da sie sich nur wenig mit dem Werk Nietzsches identifizieren wollen oder können; andererseits bei den Philosophen, da Nietzsche ihnen erst nach vielen „Anlaufschwierigkeiten“ (so wurde Nietzsche zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa als „Modephilosoph“ oder gar als „Scharlatan“ bezeichnet) nun doch langsam ans Herz gewachsen zu sein scheint. Wenn man also versucht, Nietzsche mit der Soziologie in Verbindung zu bringen, sitzt man sofort zwischen „zwei unterschiedlichen Stühlen“ und muß sich zudem noch mit all den Schwierigkeiten herumschlagen, die Nietzsches Werk selbst bereithält, wenn es um seine Stellung und Stellungnahmen zur Soziologie geht oder eben um jene Aspekte seines Schaffens, die man als „soziologisch“ oder – um es vorsichtiger zu formulieren – als „soziologisch relevant“ bezeichnen könnte. Sie betreffen im allgemeinen gesprochen in erster Linie seine „Kritik der Moderne“, die er „so unmodern wie möglich aufs Moderne [herunterblickend]“ (KSB 8, Nr. 997, S. 258) zum Ausdruck bringen wollte, und seine „Kritik der modernen Europäischen Kultur“, die er als „ein ungeheures Problem und durchaus keine Lösung“ (KSB 8, Nr. 974, S. 227) verstanden hat.

Wenig hat Nietzsche jedoch nur gewußt von der Soziologie, dieser damals noch sehr jungen Disziplin, die mit Auguste Comtes (1798-1857) Système de politique positive ou Traité de sociologie (1851-1854) begründet wurde, und kurz darauf mit dem Engländer Herbert Spencer (1820-1903) und seinem Buch The Principles of Sociology (1876-1896) einen weiteren frühen Vertreter gefunden hat. Erst das 20. Jahrhundert führte zu einem Durchbruch der Soziologie als eigenständiger Wissenschaft und bescherte ihr jene Blütezeit, die sie bis in die frühen 70er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein verzeichnen konnte. Dann trat das ein, was man heute gemeinhin als die „Krise der Soziologie“ bezeichnet, die der Freiburger Soziologe Frank Welz mit dem ernüchternden Umstand erklärt, daß ihrem „Versprechen theoretischer Erklärung des Sozialen [...] derzeit nur verhalten getraut“ wird. Das erste deutschsprachige Werk jedoch, welches das Wort „Soziologie“ im Titel führte, war der Grundriß der Soziologie des Österreichers Ludwig Gumplowicz (1838-1909) und erschien 1885 in Wien. Nietzsche hat das Buch nicht gekannt, ebensowenig wie seinen Autor oder andere deutschsprachige Soziologen seiner Zeit. Er kannte lediglich die Theorien von Comte und Spencer, aber auch diese recht eigentlich nur indirekt. In dieser Hinsicht ist es bemerkenswert, daß der erste deutsche Lehrstuhl für Soziologie nicht eher als im Jahre 1925 an der Universität Leipzig eingerichtet wurde, also lange nach Nietzsches Tod. Inhaber des Lehrstuhls war damals der Soziologe und Kulturphilosoph Hans Freyer (1887-1969), der sogar vielen modernen Vertretern der Soziologie heute ein völlig Unbekannter ist, der aber wie viele andere seiner Zeitgenossen auch stark von Nietzsches Denken beeinflußt war.

Doch Nietzsches Stellung zur Soziologie taugt nur wenig zur erläuternden Begründung dieses Einflusses. So faßt Nietzsche zum Beispiel in § 37 der Götzen-Dämmerung seine Sichtweise der englischen und französischen Soziologie in gewohnt scharfer und pointierter Manier wie folgt zusammen: „Mein Einwand gegen die ganze Soziologie in England und Frankreich bleibt, daß sie nur die Verfalls-Gebilde der Societät aus Erfahrung kennt und vollkommen unschuldig die eigenen Verfalls-Instinkte als Norm des soziologischen Werturteils nimmt. Das niedergehende Leben, die Abnahme aller organisierenden, das heißt trennenden, Klüfte aufreißenden, unter- und überordnenden Kraft formuliert sich in der Soziologie von heute zum Ideal.“ (KSA 6, § 37, S. 138f.) Nach Nietzsche ist die Soziologie also nicht nur aufs äußerste dem Geist der Dekadenz verpflichtet, sondern sie ist sogar selbst ein Zeichen des allgemeinen gesellschaftlichen Niedergangs, den sie eigentlich zu beschreiben sucht. Sie ist mit anderen Worten gesprochen im wesentlichen nihilistisch. In seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen äußert sich Nietzsche auch ähnlich kritisch zur damals in Deutschland aufkommenden Statistik, der er als radikaler Individualist natürlich mit einiger Skepsis gegenübersteht: „Die Massen, [...] hole sie der Teufel oder die Statistik! Wie, die Statistik beweise, daß es Gesetze in der Geschichte gäbe? Gesetze? Ja, sie beweist, wie gemein und ekelhaft uniform die Masse ist: soll man die Wirkung der Schwerkräfte Dummheit, Nachäfferei, Liebe und Hunger Gesetze nennen?“ (KSA 1, § 9, S. 320) Deutlich wird an diesen beiden Stellungnahmen Nietzsches zur Sozialwissenschaft sein starker „Anti-Soziologismus“ (S. 246), wie Roger Häußling Nietzsches Verhältnis zur damals noch jungen Disziplin in seinem Buch Nietzsche und die Soziologie treffend umschreibt.

Nietzsches Attacken gegen die ihm lediglich durch die Werke Comtes und Spencers bekannte Disziplin fielen also ungewöhnlich scharf aus und verpufften dennoch – da weitgehend fragmentarisch in Form und Charakter – weitgehend wirkungslos. Die meisten dieser Stellungnahmen Nietzsches zur Soziologie sind ohnehin nur posthum, im Nachlaß, veröffentlicht worden und in ihrer Kritik offensichtlich auch weitgehend ideologisch determiniert. Dennoch liefern diese Fragmente im Zusammenspiel mit den wenigen schon zu Lebzeiten Nietzsches veröffentlichten Äußerungen oder Apophtegmen zur Soziologie bissige und zum Teil äußerst scharfsichtige Kritiken an dem – von Nietzsche attackierten und aus seiner Sicht nur oberflächlichen – Geist der ‚empirischen Wissenschaftlichkeit‘, auf den die Soziologie als Lehre von der Gesellschaft damals wie heute rekurriert. Nur hat die Soziologie bisher recht wenig aus diesen Einsichten in die vermeintlichen Schwächen ihres theoretischen Ansatzes zur Erklärung sozialer Phänomene (aus denen sie in Wahrheit auch selbst entstanden ist und mit denen sie auch immer aufs innigste verbunden bleibt) gemacht. So tut sich die Soziologie zum Beispiel schon lange äußerst schwer damit, Nietzsche als einen entscheidenden Stichwortgeber auch nur einfach einmal zu benennen, geschweige denn ihn als solchen zu akzeptieren. Obwohl sich Nietzsches Einfluß auf die „Gründungsväter“ der Disziplin, wie etwa auf Georg Simmel und Ferdinand Tönnies, aber auch auf Max und Alfred Weber, nur schwer verleugnen läßt. Alle vier der eben genannten Vordenker der Soziologie beschäftigten sich nachhaltig mit Nietzsches Philosophie und entwickelten viele seiner herausfordernden und scharfsinnigen Thesen in ihren soziologischen Untersuchungen der Moderne in vielfacher Weise weiter. Man könnte sogar ohne weiteres so weit gehen zu behaupten, daß die Hauptwerke von Simmel und Tönnies sowie von Max und Alfred Weber ohne den spezifischen Einfluß Nietzsches nicht gänzlich zu verstehen, geschweige denn zu interpretieren sind, vor allem da Nietzsches Philosophie, um es mit einem provokanten Schlagwort von Bryan S. Turner und Georg Stauth zu sagen, das in vieler Hinsicht „abwesende Zentrum der modern Sozialwissenschaften“ darstellt. Insofern kann Horst Baier in seinem Aufsatz Die Gesellschaft – ein langer Schatten des toten Gottes. Friedrich Nietzsche und die Entstehung der Soziologie aus dem Geist der Décadence (1981/82) zum Einfluß Nietzsches auf die frühe deutsche Soziologie auch völlig zu recht behaupten, daß die „großen Themen der Soziologie, zumal der deutschen, [...] ihr von Marx und Nietzsche gestellt [sind].“

Der Grund für diese außerordentliche Wirkung Nietzsches auf die frühe deutsche Soziologie hängt mit der radikalen „Entzauberung“ (Max Weber) der Ideale der bürgerlichen Gesellschaft zusammen, die Nietzsches Philosophie für seine Zeitgenossen bereitgehalten hat. In seinen Betrachtungen zur literarischen Nietzsche Rezeption in Deutschland beschreibt Bruno Hillebrand diesen ‚demaskierenden‘ Einfluß Nietzsches auf die bürgerliche Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts wie folgt: „Nietzsche hatte seismographisch die Bewegung seiner Zeit erfaßt, er registrierte den Erdrutsch, der dem Bürgertum den Boden entzog – zu einer Zeit, als sich dieses Bürgertum sicher fühlte wie nie zuvor. Er decouvrierte die bürgerliche Moral, klopfte an die hohlen Statusformen, deckte brutal das wertlose Fundament dieser Gesellschaft auf. Er tat das nicht materialistisch auf Kollektivinteressen ausgerichtet, er tat das idealistisch in dem Glauben an die Individualstruktur des Menschen. Sein Kampf galt den aufgeblasenen Pseudoidealen einer ideenlosen Gesellschaftsschicht.“ Schon aus diesem Grund wendeten sich die frühen deutschen Soziologen immer wieder dem Werk Nietzsches zu, da auch sie die „Bewegung der Zeit“ deutend erfassen und zugleich das „Fundament der Gesellschaft“ schonungslos aufdecken wollten. Wenn auch mit anderer Absicht und mit völlig anderen Zielen, so doch mit ähnlichen oder gar gleichen, da ‚entliehenen‘ Mitteln.

So spricht Klaus Lichtblau in seiner Studie zur Kulturkrise und die Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland (1996) auch völlig zu Recht von den Versuchen, „einer disziplinären Selbstverständigung der modernen Soziologie vor dem Hintergrund eines übergreifenden generationsspezifischen Kulturdiskurses“, der ausgehend von den kulturkritischen Schriften des späten 19. Jahrhunderts und vor allen Dingen im Anschluß an Nietzsches radikale Diagnose und Kritik des europäischen Nihilismus, die Entwicklung der frühen deutschen Kultursoziologie ganz wesentlich mitbestimmt hat. Dabei spielte Nietzsches harsche Soziologiekritik, wie bereits erwähnt, interessanter Weise überhaupt keine Rolle, da seine „Kritik der Moderne und ihrer Kultur“ schon ausreichend Anlaß zur intensiven Auseinandersetzung mit seinem Werk bot. In den Schriften der Gründerväter der Soziologie spielt Nietzsches Philosophie daher oftmals die Rolle eines Katalysators oder Initiators, bei der Formulierung neuer, oftmals radikaler Positionen, wobei sich ihre „Anknüpfung an Nietzsche“, nach Häußling, „im Kern allerdings auf die Analyse der Moderne [erstreckt].“ (S. 246)

Diesen scheinbaren Widerspruch zwischen Nietzsches Absicht, die Soziologie zu diskreditieren, und der tatsächlichen Wirkung seiner Schriften auf die Gründerväter der deutschen Soziologie – die sich in erster Linie darin äußert, daß seine Schriften oftmals als Impetus für neue soziologische Theorien und Einsichten dienten –, läßt sich nicht zuletzt auch mit der außerordentlichen Originalität und Vielfältigkeit der Schriften Nietzsches erklären. So schreibt Häußling in seinem Buch über den (nahezu paradoxen) Umgang der frühen deutschen Soziologen mit Nietzsches Philosophie etwa: „Ihre bewußte und produktive Auseinandersetzung mit Nietzsches Kritik der Moderne läßt vermuten, daß im Aktionsraum soziologischer Theoretisierung auch Positionen beziehbar sind, die sich zumindest den unmittelbaren Einwänden Nietzsches gegen diese Disziplin zu entziehen suchen.“ (S. 206)

So erklärt sich auch die große Begeisterung mit der Nietzsches Philosophie anfänglich in der frühen deutschen Soziologie aufgenommen worden ist, da sein Werk zwar einerseits ‚soziologisch naiv‘ war, wie Alfred Weber es dann später nannte, aber andererseits trotzdem tiefgehende, wenn auch völlig unkonventionelle und unsystematische Einsichten in die kulturellen Strukturen und Facetten moderner Gesellschaften eröffnet hat.

In dieser Hinsicht hat sich Nietzsches Kritik an der wissenschaftlichen Ausrichtung der Soziologie, der er sein eigenes Verständnis von einer „ästhetischen Wissenschaft“ der Kultur mahnend entgegenhält, in gewissem Sinne in ihr Gegenteil verkehrt, da es bei den von Nietzsche geprägten Soziologen „fallweise zu gewissen Übernahmen [kam], von denen Nietzsche angenommen hatte, daß sie für die Soziologie eigentlich untauglich seien“, so Häußling. (S. 246) Diese beinahe in ihr Gegenteil verkehrte Absicht sollte allerdings nicht auf eine mangelnde Kohärenz in Nietzsches Theorie zurückgeführt werden, sondern ist eher als Ausdruck der radikalen Weitsicht seiner Philosophie zu verstehen, die sich in Nietzsches eigenem Verständnis an eine „künftige Menschheit“ richtet.

Eine ähnliche Schlußfolgerung über die Kohärenz von Nietzsches Philosophie – wenn auch im Hinblick auf die Frage der metaphysischen Schlußfolgerungen in seinem Werk, die scheinbar im krassen Widerspruch zu seiner Infragestellung des Wahrheitsbegriffs stehen ­– zieht Stefan Lorenz Sorgner in seinem Buch Metaphysics without Truth: On the importance of Consistency within Nietzsche’s Philosophy (München: Herbert Utz Wissenschaft 1999), wenn er behautet, daß Nietzsches scheinbar widersprüchliche Philosophie keineswegs inkohärent ist, sondern sich mit ihren zum Teil paradox erscheinenden Kernaussagen an eine künftige Menschheit richtet, die dem wahren Geist der Wissenschaftlichkeit verpflichtet sei: „Aus diesem Grund ist Nietzsches Behauptung, daß alle scheinbar möglichen Perspektiven im Verhältnis zur Wahrheit gleichsam falsch seien, aber daß seine eigene Philosophie dennoch allen anderen Philosophien überlegen ist, auch nicht widersprüchlich, da seine Philosophie sich an den Zeitgeist richtet, d.h. an den „Geist der Wissenschaftlichkeit“. Daher behauptet Nietzsche auch, daß das Zeitalter der Wissenschaft erst mit ihm begann.“ (vgl. S. 150) Der Soziologie hingegen sprach Nietzsche diese Qualitäten immer ab, und hielt ihr statt dessen seine eigene „Kritik der Moderne und ihrer Kultur“ sowie sein Konzept einer „ästhetischen Wissenschaft“ vehement als Gegentheorie entgegen.