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Tag für Tag - WLA-Online - Wissenschaftlicher Literaturanzeiger
Tag für Tag
Intime Aufzeichnungen

Monolog vor dem Spiegel

 

Henri-Frédéric Amiel (1821-1881), ein unauffälliger, feinsinniger, wenig produktiver Gelehrter der Genfer Universität, hinterließ bei seinem Tode, eine Unmenge beschriebenen Papiers – die Tätigkeit von gut dreißig Jahren. Mit Bedenken unternahm man eine Auswahlveröffentlichung, die in späteren Auflagen erweitert wurde. Sie fand ein erstaunliches Echo; die Epoche sah darin vielleicht keine Leistung, sondern ein Symptom: die anhaltende Selbstbespiegelung eines müden Menschen, dem das Bild, in das er schaut, allmählich zum Antlitz der Meduse wird und ihn erstarren macht. Pater und Bourget, Hofmannsthal und Tolstoj, schließlich auch Rychner, noch Pessoa, haben versucht, diesem Dokument des Lebensüberdrusses, des ennui und des alles zerfasernden Bewußtseins zu charakterisieren und sich den traurigen Ruhm dieses Mannes, der vieles wollte und nichts vermochte, zu verdeutlichen.

Die Auswahl, die Lew Tolstoj, dem längst schon ein paar Stiefel wichtiger geworden war als manches literarische Meisterwerk der abendländischen Überlieferung, hat dieses Zeugnis überwacher Agonie mit Anteilnahme gelesen und seine eigene Auswahl von der Tochter übersetzen lassen. Endlich wird diese Auswahl mit dem Vorwort von Tolstoj durch eine Übersetzung aus dem Russischen wie dem Französischen dem interessierten Leser zugänglich gemacht, wobei auch die Streichungen, die Tolstoj an einzelnen Abschnitten vorgenommen hat, rückgängig und Bearbeitungen sichtbar gemacht werden. Es überrascht, den asketischen Volksbeglücker und Pädagogen als den Bewunderer eines Zufalls-Autoren zu sehen, dessen Aufrichtigkeit wohl noch das Beste an ihm ist, geht er darin doch so weit, auch die halbbewußte Selbsttäuschung noch zu notieren.

Die Vergeblichkeit, die Widerstände, deren Amiel sich stets im Vorhinein schon bewußt wird, geben ihm das Alibi, auf Entscheidung und Handeln zu verzichten. „Ich mißtraue mir selber, dem Glück, weil ich mich kenne. Das Ideal vergiftet mir jeden unvollkommenen Besitz“, notiert der kaum Dreißigjährige. Schließlich meint er gar, aller Leidenschaften fähig zu sein und sie wie der Dompteur die Tiere im Käfig zu halten; er hält fest an einem Bilde von sich, das mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt; das Leben als sein eigener Zuschauer anzusehen, ist kein Privileg, wie er gern möchte, sondern ein Fluch. Modern ist die Helle des Bewußtseins, das ihn vom Leben absondert, altertümlich sind seine Vorstellungen im Hinblick auf Kunst, Gesellschaft und Politik – die Angst vor der Moderne. Zuweilen meint Amiel gar über dem Leben zu stehen, doch wer nur existiert, um sich sterben zu sehen, der lebt nicht mehr. Was sich als Aphorismen herauskristallisiert, ist schwach. Amiel möchte sein Schicksal bejahen, doch er hat keines! Von Wehleidigkeit nicht frei, sind diese Seiten so etwas wie ein ermüdender Kommentar zu einer der wichtigsten Erzählung von Henry James: The beast in the Jungle. Zu spät erkennt er, was er verfehlt hat. Nicht nur an seiner asthmatischen Bronchitis ist der arme Amiel schließlich erstickt.