Am 1. Mai 2004 erlebt die Europäische Union die bisher größte Erweiterung ihrer Geschichte und erfährt damit gleichsam eine der größten Herausforderungen ihres Bestehens. Über den wirtschaftlichen und politischen Sinn, Nutzen und mögliche Gefahren der Osterweiterung herrscht – trotz erfolgreicher Referenden – geteilte Meinung im alten wie im neuen Europa. Klar ist jedoch, im Europa der nationalen und regionalen kulturellen Identitäten eröffnen sich bisher ungekannte und z. T. völlig neue Perspektiven auf Künstler und ihr Schaffen.
Daß sich ein verstärkter Blick über den östlichen Tellerrand lohnt, zeigt das Werk von M. K. Čiurlions, der nicht zu Unrecht wohl als bedeutendster litauischer Maler und Künstler – er zeichnete sich sowohl als Komponist und Dichter aus – der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gilt. Geboren 1875 und schon im Alter von 35 Jahren früh verstorben, ist sein Schaffen kaum verwunderlich von den Stimmungen des schicksalhaften Umbruchs, der Dekadenz geprägt, einem hohen Maß an Spiritualität, ohne jedoch Launen der Verzweifelung und des Untergangs auszudrücken, und spiegelt stark das Bestreben nach der Synthese der Künste.
Die Verwendung von Motiven und künstlerische Techniken rücken Čiurlionis dem Symbolismus nahe, in den Stimmungen seiner Bilder reflektieren sich jedoch jene idealistisch-theosophischen Ideen, die ihn bei Studienaufenthalten in Warschau und Leipzig tief beeindruckt und geprägt haben. Begünstigt wird dies noch durch die Opposition seiner Erfahrungswelten, der archaischen litauischen Land- und dörflichen Kultur einerseits und dem modernen großstädtischen Leben andererseits.
Zeittypisch ist seinem Schaffen immer auch der Versuch der Annäherung von Malerei und Musik zueigen: die Musik verstärkte den Fluß der Einbildungskraft, Prinzipien des Aufbaus musikalischer Werke fließen als Ordnungsstrukturen in die Bildwelt ein, Bilder tragen den Titel ›Sonate‹, während in seinen dichterisch-autobiographischen Werken musikalische Metaphern als Ausdrucksmittel große Bedeutung zukommt.
Fragen nach dem Wesen des Menschen, dem Sein allgemein und der Verortung des Individuums in Welt und Universum – mit dem Fortschreiten des Schaffens erweiterte sich die Dimension –, auf der Folie einer „hellen geistigen Richtlinie“, stehen im Vordergrund. Eingebettet sind diese elementaren Rätsel stets in binäre Oppositionen wie Chaos und gedankliche Ordnung, hell und dunkel, Ruhe und Freude, Trauer und Unruhe oder Leben und Tod, in denen sich nicht zuletzt seelische Zustände, eine produktive Melancholie ausdrückt. Nicht nur auf Grund seiner Herkunft, dem multiethnischen Raum am Rande des Russischen Reiches, kommt Čiurlionis damit eine exponierte Stellung in der europäischen Moderne zu.