Möglichkeitsdichtung - Wirklichkeitssinn.
Paul Ricoeurs hermeneutisches Denken der Geschichte

Die Untersuchungen Paul Ric½urs zur Geschichte bilden ein fruchtbares, obgleich sehr komplexes Forschungsfeld für jeden, der sich mit Theorie und Wesen der Geschichte beschäftigt. Freilich ist es nicht leicht, dem französischen Philosophen auf allen Ebenen seines Denkens zu folgen, verbindet er doch wissenschaftstheoretische und erkenntnistheoretische Fragestellungen an die Geschichtswissenschaft mit ontologischen Fragen an den Status des Begriffs Geschichte selbst ' und dessen Beziehung zu Gedächtnis, Erinnerung und schließlich zu anthropologischen Fragen. Dieses Jahr ist die 2005 angenommene Dissertation von Andris Breitling, 'Möglichkeitsdichtung ' Wirklichkeitssinn. Paul Ric½urs hermeneutisches Denken der Geschichte', erschienen, in der er eine systematische Rekonstruktion von Ric½urs 'Denken der Geschichte' vorlegt.
Anhand des titelgebenden Begriffspaares Möglichkeitsdichtung und Wirklichkeitssinn entfaltet Breitling in intensiver Auseinandersetzung mit den Schriften Ric½urs dessen hermeneutische Philosophie der Geschichte, die sich auf der einen Seite aus den Problemfeldern der Erzähltheorie und Texthermeneutik, auf der anderen Seite aus der Auseinandersetzung unter anderem mit der Ontologie Heideggers heraus entwickelt. Mit dem Begriffspaar charakterisiert Breitling prägnant, wie fiktionale Möglichkeiten und Formen der (geschichtlichen) Erfahrung ineinander verschränkt sind.
Breitling führt den Leser minutiös, aber immer mit Blick auf die übergreifenden Fragestellungen durch die Texte Ric½urs, allen voran natürlich 'Zeit und Erzählung', aber ' explizit im ersten Kapitel ' auch frühe Arbeiten Ric½urs aus den 40er und 50er Jahren, und spürt auch den Auseinandersetzungen Ric½urs mit seinen philosophischen Gesprächspartnern nach, die charakteristisch für dessen Philosophieren sind. Dabei wird detailliert die Verknüpfung von fiktionaler und historischer Erzählung herausgearbeitet, aber vor allem Ric½urs  Zusammendenken von Geschichte, Sinnstiftung und Handeln ausgebreitet. Im Zentrum dieses Teils steht die Rekonstruktion vom Verhältnis des Erzählens zum hermeneutischen Lesen, der erfahrungsrefigurierenden Funktion der Erzählung und schließlich der 'conditio historica' (S. 286).
Hervorzuheben ist dabei eine Gegenüberstellung von Ric½ur mit der Geschichtsphilosophie Hegels, in der Breitling herausarbeitet, dass Ric½ur versucht, einen nicht-totalisierenden narrativistischen Standpunkt zur Geschichte einzunehmen, indem er sie in enger Verbindung mit der Freiheit des Menschen sieht, von der man mit Ric½ur nur als einer geschichtlich bedingten Freiheit der Möglichkeiten sprechen kann und nicht etwa von einer transhistorischen Sinnstiftung. Wie Breitling in Anlehnung an Ric½ur schreibt, könne man dessen hermeneutischen Ansatz als ein 'Denken der Geschichte ohne Geschichtsphilosophie' nennen (S. 230). Ric½ur versteht, so unterstreicht Breitling, das Denken der Geschichte als Projekt einer philosophischen Anthropologie.
In einem zweiten Schritt, der auch den letzten Teil des Buches ausmacht, stellt sich Breitling dem unvermeidlichen Problem des Relativismus, mit dem sich jede wissenschafts- und erkenntnistheoretische Beschäftigung mit Geschichte konfrontiert sieht. Breitling steigt in diese Diskussion ein, indem er Ric½ur mit der 'postmodernen' Position Lyotards gegenüberstellt. Zum einen wird dessen These vom Ende der großen Erzählungen in 'Das postmoderne Wissen: Ein Bericht' und der Verabsolutierung des Erzählaktes zur alleinigen Legitimationsquelle auch von moderner Wissenschaft und Philosophie diskutiert. Dies führt Breitling mit Ric½ur auf die anthropologische Dimension des Erzählens. Auf der anderen Seite geht es um die Problematik des Undarstellbaren und der Unvereinbarkeit von unterschiedlichen Erzählungen bzw. Diskursarten in Lyotards 'Der Widerstreit'. An dieser Stelle führt Breitling Ric½ur als systematische Position ins Feld, um sich verschiedenen Problemfeldern, die sich aus der Konfrontation ethischer, politischer und wissenschaftlicher Diskurse ergeben.
Breitlings Dissertation ist auf der einen Seite empfehlenswert für jeden, der sich intensiver mit der Philosophie Paul Ric½urs beschäftigen will. Der Autor nimmt sich viel Zeit, um den feinen Verästelungen von Ric½urs Denken nachzuspüren. Auf der anderen Seite bietet die Präsentation von Ric½urs Philosophie eine breite Folie, vor der sich das Feld der wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Auseinandersetzung um Geschichte und Geschichtswissenschaft erschließt.