Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen.
Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur

Wer wissen will, was es mit der Bemerkung auf sich hat, daß 'die sprichwörtliche deutsche Trunksucht eine naturgegebene Notwendigkeit' (S. 35) sei, oder wer mehr über das 'Stereotypreservoir des Deutschen' (S. 44), zu dem u. a. 'Tölpelhaftigkeit und Grobheit, Schwerfälligkeit im Denken' (S. 441) zählen, erfahren möchte, der oder die sollte sich die Lektüre des anzuzeigenden Bandes nicht entgehen lassen. Doch diese ganz ausgezeichnete Textdokumentation, die eine sehr breite Auswahl von repräsentativen Texten (nicht nur aus der Literatur im engeren Sinne, sondern auch aus Ästhetik, Geographie, Medizin, Philosophie, Rhetorik und Staatswissenschaft) von der Frühen Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert enthält, gibt nicht nur Aufschluß über die Hintergründe, Entstehungsbedingungen und Ausformungen von etablierten Nationalstereotypen, die in einem kollektiv geteilten 'Wissen' von den 'Tugenden und Lastern der Völker' (S. 41) gründen. Vielmehr belegt diese Dokumentation 'an historischen Beispielen, inwiefern die durch die Jahrhunderte tradierte Annahme von einer je besonderen ‚Natur‘ der Völker den Gebrauch nationaler Stereotype legitimiert' (S. 42).
Die vorzügliche Einleitung der Herausgeberin ('Nationale Stereotype als Gegenstand der Literaturwissenschaft') gibt einen sehr fundierten und informativen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Stereotypenforschung, erläutert die Begriffe 'Stereotyp', 'Klischee' und 'Vorurteil', formuliert eine ebenso überzeugend wie anregende 'Grundsatzkritik' an den 'Grenzen der Imagologie' (S. 16) und erläutert den Zusammenhang zwischen dem älteren Konzept des Nationalcharakters und dem des Stereotyps. In einem 'historischen Exkurs', der auf elegante Weise 'eine Brücke von der vorausgehenden theoretischen Grundlegung und der Verortung eigener Ergebnisse im Kontext der Forschung hin zum konkreten Quellenmaterial' (S. 33) schlägt, formuliert Ruth Florack eines der zentralen Ergebnisse ihrer Forschungen: 'Es ist das Konzept vom Nationalcharakter, das, sei als explizite oder implizite Voraussetzung, den nationalen Stereotypen zugrunde liegt, die als loci communes über die Jahrhunderte tradiert worden sind - eben auf dem Fundament solchen ‚Wissens‘ über die Verschiedenheit der Menschen.' (S. 32) Der zentralen These gemäß liegt 'der Ursprung der nationalen Stereotype in einem Wissen [...], das die europäische Gelehrtenwelt geteilt hat' (S. 33). Demzufolge handelt 'es sich bei nationalen Zuschreibungen um ein gemeinsames, grenzüberschreitendes Erbe' (S. 921), wobei 'nationale Stereotype ihre Autorität aus dem Nationalcharakterkonzept' (S. 43) beziehen.
Allen Textausschnitten vorangestellt sind jeweils erläuternde Kommentare, die auf sehr prägnante und informative Weise 'Veränderungen in den überkommenen Schemata, Akzentverschiebungen oder unterschiedliche Bewertungen der Eigenschaften aus dem jeweiligen historischen Kontext zu erklären' (S. 44) versuchen, was der Herausgeberin aufgrund ihrer großen Belesenheit immer wieder vortrefflich gelingt. Höchst erhellend sind etwa die Erläuterungen zum Zusammenhang zwischen dem argumentativen Gebrauch des Nationalcharakterkonzepts und den ästhetischen Schriften und den von der Literaturkritik formulierten Positionen (vgl. S. 607 ff.).
Trotz des stolzen Preises, der angesichts der hohen bibliophilen Qualität dieses voluminösen Buches durchaus gerechtfertigt erscheint, sind diesem ausgezeichneten Band sehr viele (deutsche wie französische) Leserinnen und Leser zu wünschen. Dieser opulente und gediegen ausgestattete Liebhaberband, der eine veritable Fundgrube ist, sei frankophilen (und meinetwegen auch frankophoben) Teutonen ebenso mit Nachdruck empfohlen wie allen Lesern, die mehr wissen möchten - nicht nur über 'die didaktisch gemeinte Opposition von ‚moralischen Deutschen - frivolen Franzosen‘' (S. 344), sondern auch über 'Ursprung und Funktion nationaler Stereotype' (S. 48).