Vor mehr als 25 Jahren erschien im Springer-Verlag die zweite und bislang letzte Auflage des zweibändigen Klassikers Gerichtliche Medizin von Berthold Mueller. Nunmehr liegt, herausgegeben von den Rechtsmedizinern Madea und Brinkmann (Bonn/Münster), ebenfalls in zwei Bänden – erschienen ist zunächst Band 2 – und wiederum aufgelegt von Springer, ein jetzt schon als „neuer“ Klassiker anzusehendes Werk mit dem eher bescheidenen Titel Handbuch gerichtliche Medizin vor.
Dieses umfassende rechtsmedizinische Gesamtwerk ist Lehrbuch und Nachschlagewerk zugleich. Der enorme Wissenszuwachs des letzten Vierteljahrhunderts trägt nicht nur dem Umfang Rechnung (allein der vorliegende zweite Band umfaßt 1 754 Seiten mit 589 Abbildungen und 405 Tabellen), sondern spiegelt insbesondere den aktuellen Kenntnisstand der modernen Rechtsmedizin mit den seit Mueller neu etablierten Untersuchungsmethoden in vollem Umfang wider. Hierzu gehören beispielsweise die Begleitstoffanalyse bei behauptetem Alkoholnachtrunk, die Haaranalytik, die Dopinganalytik – ein Unterkapitel befaßt sich gar mit Pferdedoping – oder auch neue Erkenntnisse zu Biologie und Genetik der Sucht sowie auch molekularbiologische Grundlagen bei Identifizierungsfragen. Der Band beinhaltet insgesamt acht forensisch-medizinische und forensisch-naturwissenschaftliche Kapitel zu Toxikologie, Alkohol, Drogen/Sucht, Forensische Psychiatrie, Verkehrsmedizin, Identifizierung, Rechtsfragen sowie Forensische Odonto-Stomatologie. Diese Schnittstellen zwischen Jurisprudenz und Medizin werden in Unterkapiteln mit Literaturanschluß von zahlreichen Fachkollegen unter den aktuellen Erkenntnissen zu Medizin, Naturwissenschaft und Rechtsprechung sowie in Hinblick auf moderne Standards umfassend dargestellt. Bereits bei der ersten Durchsicht des Bandes wird man unwillkürlich an die im Jahre 1921 von Julius Kratter gegebene und nach wie vor im Kern gültige Definition der gerichtlichen Medizin erinnert, wonach hierin medizinische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse Anwendung für die Rechtspflege finden sollen. Das Handbuch wird dem gerecht, was es sein sollte, nämlich nicht nur praxisorientierter Ratgeber für die gerichtsärztliche Tätigkeit und breite Basis für die gutachterliche Tätigkeit, sondern auch Nachschlagewerk für rechtsmedizinische Detailfragen.
Erfreulich, daß als Publikationssprache Deutsch gewählt worden ist, was insbesondere in Hinblick auf das Kapitel „Forensische Psychiatrie“ (u.a. mit Darstellungen zur Rechtslage in Deutschland sowie in der Schweiz und in Österreich) und das Kapitel „Rechtsfragen“ (Sachverständigenrecht, Begutachtungsfragen, Versicherungsmedizin sowie Recht und Ethik in der Medizin, ferner iatrogene Schäden, Behandlungsfehler und Behandlungsfehlerbegutachtung) mit notwendiger Zitierung und Kommentierung relevanter Gesetze unumgänglich erscheint. Eine Übertragung von Gesetzestexten aus dem Deutschen (Das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) bestimmt in § 184: „Die Gerichtssprache ist Deutsch“!) hätte wohl kaum zum inhaltlichen Verständnis derselben beigetragen. Leider ist gerade das Kapitel „Rechtsfragen“ in der Kurzinhaltsübersicht zu Anfang des Bandes nicht mit aufgezählt und offensichtlich vergessen worden.
Das Werk richtet sich naturgemäß in erster Linie an Vertreter des Fachgebietes Rechtsmedizin, ist als umfassendes Handbuch und Nachschlagewerk aber auch für andere medizinische Fächer wie beispielsweise Pathologie und Psychiatrie sowie für Nichtmediziner, namentlich Juristen, Kriminalisten und Kriminologen sowie Vertreter von Polizei und Versicherungsgesellschaften, von großer Relevanz und kann vom Rezensenten vorbehaltlos als Empfehlung ausgesprochen werden. Der auf den ersten Blick hohe Kaufpreis von 399,50 EUR pro Band ist in Hinblick auf Umfang, Inhalt und Bedeutung des im deutschsprachigen Raum einzigartigen Lehrbuchs und Nachschlagewerkes keinesfalls unangemessen. Der Leser kann jedenfalls jetzt schon auf die angekündigte baldige Herausgabe des ersten Bandes gespannt sein und sich hierauf freuen.