Die Migration von Polen nach Deutschland
Zu Geschichte und Gegenwart eines europäischen Migrationssystems

Verwandlung Ost II

Eine Zeitlang konnten Reisende im Regionalexpreß Magdeburg - Frankfurt/Oder zwischen Berlin und dem Grenzbahnhof eine Lautsprecherstimme vernehmen, die den Namen der jeweils nächsten Station ankündigte – auf deutsch und auf polnisch. Davon hat man inzwischen wieder Abstand genommen, bis auf eine Ausnahme: kurz vor Frankfurt/Oder wird die Ankunft nach wie vor in polnischer Sprache angekündigt. Was führte zu diesem Sinneswandel? Bei näherem Hinsehen offenbart die scheinbare Bagatelle ein Bündel von Problemen, die irgendwie mit der Migration von Polen nach Deutschland zusammenhängen. Dem gehen die Autoren des von Christoph Pallaske herausgegebenen Bandes nach. Ihre Beiträge basieren auf der Tagung „Polnische Migranten in Deutschland“, zu der im März 2000 das Institut für Europäische Regionalforschungen an der Universität Siegen deutsche und polnische Nachwuchswissenschaftler eingeladen hatte.

Ob die chronologische Gliederung des Bandes in zwei Teile, nämlich vom späten 19. Jahrhundert bis 1980 und dann von 1980 bis zur Gegenwart optimal ist, darf bezweifelt werden. Zumindest dem ersten Teil hätten weitere Zäsuren gutgetan, so etwa 1919 und 1944/1945. Gleichwohl ist das nicht gravierend. Kenntnisreich präsentiert der Herausgeber in der Einleitung eine Problemübersicht. Drei Aspekte hebt er dabei hervor: „die relative Unsichtbarkeit der gut eine Million dauerhaft hier lebenden Zuwanderer aus Polen“, die „Parallelität von langfristiger Zuwanderung“ und „zirkulärer Arbeits- bzw. Pendelmigration“ sowie „die weit zurück reichende historische Dimension der Migration von Polen nach Deutschland“ (S. 10). Dieser Befund wird durch die folgenden Beiträge massiv gestützt. Den Umgang Berliner Behörden mit polnischen Zuwanderern in der Zeit zwischen 1871 und 1918 beleuchtet Oliver Steinert, wobei er besonders auf die „staatsloyale“ Rolle der katholischen Kirche in den Auseinandersetzungen um den polnischsprachigen Gottesdienst eingeht. Angelika Eder stellt Zwischenergebnisse eines Forschungsprojekts zum Leben von Polen in Hamburg vor. Die aus dem Zeitraum von 1918 bis 1980 gewonnenen Beispiele verweisen auf die zentrale Funktion der Familie bei der Wahrung polnischer Traditionen in mehr oder weniger fremder Umgebung. Thematisch knüpft Nele Kampen mit der Frage nach dem Traditionsverlust in der polnischen Minderheit an und gibt zu bedenken, ob „kollektives Vergessen“ vielleicht auch durch das deutsche Nationenkonzept gefördert wurde. Eine informative Studie zur polnischen politischen Emigration nach Deutschland in den Jahren 1945 bis 1980 steuert Krzysztof Ruchniewicz bei. Er widerspricht darin der These von einer Transformation der politischen in eine wirtschaftliche Emigration und hebt die Bedeutung politischer Emigranten für den Kampf um ein demokratisches Polen hervor. Etwas aus dem Rahmen fallend, doch methodisch und in der komparativen Perspektive überaus anregend sind die von Michael G. Esch vorgetragenen Überlegungen zu einer Sozialgeschichte der osteuropäischen Immigration in Paris zwischen 1880 und 1940. Die folgenden fünf Beiträge sind der polnischen Zuwanderung in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts gewidmet. Christoph Pallaske systematisiert die Zuwanderergruppen typologisch und fragt nach deren jeweiligen Eingliederungsbedingungen. Der Bildung von Migrationsnetzwerken und „transnationalen Räumen“ geht Frauke Miera nach. Das Modell „Arbeiten in Berlin und wohnen in Polen“ konstituiert einen solchen Raum. Wie die Spannung zwischen ethno-kultureller Identität und Integration ausbalanciert werden kann, zeigt Piotr Ewiątkowski, der vom Entstehen einer „Sowohl-als-auch-Identität“ ausgeht. Aspekte der zirkulären Arbeitsmigration werden in den beiden abschließenden Beiträgen behandelt. Norbert Cyrus beleuchtet Gründe und Strukturen, während Joanna Korczynska die nicht unerheblichen individuellen Kosten gegen den Nutzen der Saisonarbeit von Polen in Deutschland abwägt.

Alles das ist sehr erhellend, man erfährt viel über dieses komplizierte Thema. Indes erscheinen intensivere Forschungen über die Gründe der Migration, die im Herkunftsland liegen, dringend geboten.