Arbeitermilieus in der Provinz
Geschichte der Glas- und Porzellanarbeiter im 20. Jahrhundert

Schon längst sind die klassischen Industrien in die Periode ihrer Musealisierung eingetreten. Wo einst Maschinenlärm dröhnte, das Blaugrau der Arbeitskleidung die Szene dominierte und der Rauch aus Fabrikschornsteinen zum Landschaftsbild gehörte, wandelt heute ein mehr oder weniger interessiertes Publikum durch renaturierte Werksgelände, auf denen Hallen, Fördertürme und wohlkonservierte Maschinen als Ausstellungsstücke stehen. Mit dieser Musealisierung, die freilich nur die seltenere Alternative gegenüber Abriß oder Umbau war, boomte auch die Historisierung. Aus unterschiedlichsten Perspektiven wurden von den einen die Werke und ihre Arbeiter, von anderen die Arbeiter und ihre Werke in den Blick genommen. Die Liste der Publikationen ist lang. Und je länger sie wird, um so öfter fragt man sich, was da wohl noch Neues kommen soll. Georg Goes zeigt in seiner vergleichenden Studie über die Glas- und Porzellanindustrie an Orten, wo Fabrik und Wohnort faktisch ein Ganzes, einen Wirtschafts- und Milieuzusammenhang bilden, wo man es also mit 'punktueller Industrie' zu tun hat, daß dieses Forschungsterrain durchaus noch nicht so 'abgegrast' ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.

Gegenstand der Betrachtung sind die Glashütte Baruth in Brandenburg, die Porzellanindustrie im thüringischen Langewiesen, die Frauenauer Glasfabriken im Bayrischen Wald und die Porzellanherstellung im oberfränkischen Hohenberg/Eger. Der Autor wählt für seine Arbeit eine systematisierend-komparative Gliederung, durch die sich weitgespannte historische Entwicklungslinien ziehen. Detailliert werden die Standorte der Silikatindustrie beschrieben, ebenso die Strukturen der Branche und der Betriebe, der Verwaltungsaufbau und die Produktionsabläufe. Auch geht es um Arbeitsverhältnisse und die Herkunft der Beschäftigten, um Wanderungsbewegungen und die Generationenabfolge, um Geschlechterverhältnisse und Ausbildungswege. Goes leuchtet zudem die lokalen und betrieblichen Handlungsebenen der Politik und der gewerkschaftlichen Interessenvertretung aus. Hierbei gelingt ihm ein bemerkenswert differenziertes Bild. Schließlich vermittelt er knappe, aber präzise Einblicke in die örtlichen Ernährungs- und Wohnverhältnisse wie auch in die Tätigkeit von Sozial- und Kultureinrichtungen.

Was also ist der Ertrag dieser vor Ort und in zahlreichen Archiven mit beträchtlichem Aufwand betriebenen Forschungen? Zum einen wird am Beispiel der 'punktuellen' Glas- und Porzellanindustrie ein spezieller Fall industrieller Entwicklung im 20. Jahrhundert dokumentiert. Zum anderen zielt die Untersuchung auf einen Vergleich zwischen sehr unterschiedlichen lokalen und regionalen Situationen im seit 1945 geteilten Deutschland. Vor allem aber wird sichtbar, wie stabil diese stark durch Handarbeit geprägten Arbeitermilieus blieben, selbst unter den stark veränderten politischen und makroökonomischen Rahmenbedingungen der zweiten Jahrhunderthälfte. Aber der Verfasser schießt wohl über das Ziel hinaus, wenn er von einer 'Insularisierung' dieser lokalen Industriegesellschaften ausgeht. Dieser Befund erwächst nicht zwingend aus der Symbiose von Ort und Fabrik. Selbst in geographischen Randlagen dürfte eine zweifellos vorhandene Tendenz zur Verinselung im Laufe der Zeit durch zunehmende wirtschaftliche Interdependenz im nationalen und internationalen Kontext, anschwellende Wanderungsbewegungen und nachlassenden intergenerationellen Zusammenhalt mehr als nur kompensiert worden sein. Vielleicht liegt es näher, wie es der französische Sozialwissenschaftler Robert Boyer am Beispiel des japanischen Toyota-Werkes und der nach dem Betrieb benannten Stadt getan hat, von 'Mikrokorporatismus' zu sprechen. Das Problem harrt zweifellos weiterer Diskussion, nicht zuletzt im Hinblick auf die künftige Entwicklung der deutschen und europäischen Industrie. Georg Goes' Buch, eine überarbeitete Fassung seiner 1999 an der Universität Bielefeld eingereichten Dissertation, enthält hierfür wichtige Anregungen. Vor allem aber ist es ein solider Baustein zu Geschichte der Industriearbeiterschaft im 20. Jahrhundert.