Tobias Heinz‘ Untersuchung vom Jahre 2009 ist ein Plädoyer für eine Germanistik, in der literatur- und sprachwissenschaftliche Erkenntnisinteressen gleichrangig nebeneinander stehen und fruchtbar aufeinander bezogen werden. Sie soll daher auch hier – zumal sie nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat – kurz gewürdigt werden. Die Wahl des Themas dieser Braunschweiger Dissertation muss kaum eigens begründet werden. Hugo von Hofmannsthal ist neben Fritz Mauthner und Karl Kraus eine der Schlüsselgestalten der sogenannten Sprachkrise um 1900, deren Interpretation sowohl Sprach- als auch Literaturwissenschaftler – von Peter von Polenz bis Helmuth Kiesel – wiederholt beschäftigt hat. Die „Sprachkrise“ ist, mit unterschiedlichen Akzentuierungen, ebenso Teil der Geschichte der deutschen Sprache im 19. und 20. Jahrhundert wie der Geschichte der literarischen Moderne. Heinz selbst beschreibt sein Vorhaben so: „Die vorliegende Studie leistet eine entziffernde Lektüre sprachreflexiver und poetologischer Gedichte des österreichischen Schriftstellers Hugo von Hofmannsthal, dessen Texte als chiffrierte Epochensignaturen interpretiert werden. Hofmannsthals lyrisches Werk wird im Rahmen dieser Arbeit in einer Doppelperspektive in seiner sprachkünstlerischen Leistung erschlossen und als Dokument der Sprachgeschichte gedeutet“ (S. V).
Im Anschluss an Karlheinz Stierle und mit Bezug auf Herders „Merkwort“ der Epoche beschreibt der Verfasser die literarische Sprache als eine moderne Sondersprache, die „menschliche Geschichte als Sprach-Geschichte“ (S. 4) repräsentiert. Individuelle Weltwahrnehmung und Erfahrung sind in einem „Hof der Virtualität“ aufgehoben, den jede Sprache um sich selbst eröffnet und durch den sie zugleich über sich hinausreicht. „In diesem Verständnis erhält die literarische Sprache den Rang eines gestalteten Erfahrungsraums für die Gesamtsprache. Was in anderen Sprachformen argumentativ und begrifflich ausgeführt werden kann, muss sich hier ästhetisch gestaltet selbst vermitteln“ (S. 4). Die Sprache eines literarischen Werks ist also das gestaltete Zeugnis einer Epoche und damit auch ein zentraler Teil einer jeden Sprachgeschichte. In besonderer Weise gilt dies, wo Sprache selbst zum Gegenstand der Literatur wird: „Solchen sprachreflexiven literarischen Werken liegt eine Spracherfahrung zugrunde, die im Text eine ästhetische Präsenz gewinnt“ (S. 5).
Eine sprachwissenschaftliche Studie vom Zuschnitt von „Hofmannsthals Sprachgeschichte“ muss für die Analyse der „ästhetischen Präsenz“ weit ausgreifen. Heinz beschreibt zunächst die poetischen Texte Hofmannsthals vor dem Hintergrund „des Sprachortes Wien 1900“ (S. 8) und zeichnet damit zugleich ein sprachhistorisches Bild, ein „Gesicht der Epoche“ (ebd.). Dann wird gefragt, inwieweit etwa Nietzsche, Mauthner, Hofmannsthal, Kraus und andere in ihrer je eigenen Artikulation ihres heute „Sprachkrise“ genannten Unbehagens an den sprachlichen Ausdrucksformen ein kollektives Bewusstsein des miterlebten epochalen Umbruchs um 1900 eint. Dabei tritt Hofmannsthal als sprachliches Subjekt, als Sprachbenutzer auf, „der sich der Sprache sowohl der Vergangenheit als auch seiner Gegenwart reflektierend nähert“ (S. 12), und ebenso als ein Objekt seiner „Sprachgeschichte“, „die sich ein anderer erschließt, interpretiert und prüft“ (ebd.). Der Analyse sprachlicher Kunstwerke sind also Überlegungen zu Hofmannsthals Sprachsozialisation und seiner Sprachbiographie vorgelagert, die Hofmannsthals Sprachkritik und seine „sprachkulturelle Sendung“ erst verständlich machen.
Man wird dieses Programm ohne weiteres als anregend und weiterführend betrachten dürfen – und könnte darüber zur Tagesordnung übergehen. Was diese Studie aber in bisher kaum je geleisteter Weise auszeichnet, ist die tatsächliche Umsetzung des Programms in Gestalt einer sprachwissenschaftlich genauen und präzisen Einzelanalyse der ausgewählten lyrischen Texte. Vom lexikalisch-semantischen Netz der Bezüge und Assoziationen über die Gleichläufe von Klang und grammatischer Kategorie bis hin zu den Mikroanalysen der verschiedenen syntaktischen Strukturen: Tobias Heinz zeigt exemplarisch, welchen Gewinn die sprachwissenschaftliche Analyse literarische Texte hervorbringen kann, wenn sie einerseits ernsthaft und methodisch exakt, andererseits aber auch nicht als linguistischer Selbstzweck verstanden wird. So schließt denn auch Tobias Heinz mit den Worten: Hugo von Hofmannsthals „Leben ist eine Sprachgeschichte, die auf zurückhaltende, leise und tiefgründige Art den Aufbruch in die Moderne markiert. Diese aus einer bürgerlichen Sprachbiographie erwachsende, individuelle Geschichte, deren lyrischer Teil hier exemplarisch erschlossen wurde, eröffnet uns das Verständnis für eine Sprachepoche, in der Hofmannsthal seinen Platz hat“ (S. 328). Nach Botho Strauß: „Der Weg zu den Teilchen war die unabdingbare Voraussetzung, um Genaueres vom Ganzen zu erfahren“ (ebd.).
Indem die sprachkünstlerische Gestaltung der Texte analysiert wird und sie als Dokumente der Sprachgeschichte lesbar gemacht werden, entfaltet sich zugleich eine literarisch gestaltete Spracherfahrung im Kontext ihrer Epoche. Die Analysen sollten daher in jedem sprachwissenschaftlichen Einführungskurs zur Pflichtlektüre werden.