Das „Sedulius De Greca“-Glossar in den Handschriften St. Gallen, Stiftsbibliothek [292] und Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, St. Peter perg. 87

Textglossare sind wichtige Zeugnisse der Rezeptionsgeschichte der lateinischen Schriftkultur. Sie zeigen, wie die Leser im Mittelalter die klassischen Texte verwendet und gedeutet haben. Zugleich markieren sie eine zentrale Station in der Entwicklungsgeschichte neuzeitlicher Wörterbücher. In der Regel stehen die Textglossare, etwa im Falle Vergils oder der Bibel neben dem Ausgangstext und laden somit zum Vergleich geradezu ein. Ganz anders ist die Ausgangslage in dem von Petra Redmond untersuchten Textglossar aus den Handschriften St. Gallen, Stiftsbibliothek 292 und Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, St. Peter perg. 87, denn es handelt sich hierbei um ein Textglossar zu einem unbekannten Text. Die Zusammenhänge zwischen den beiden Handschriften sind in der Forschung schon früh aufgefallen, der tschechische Germanist Václav Mourek veröffentlichte eine erste Studie 1873, auf deren Grundlage er 1883 beim Schmeller-Schüler Johann Kelle in Prag promoviert wurde. Die Erkenntnisinteressen der heutigen Germanistik zielen aber nicht mehr – wie noch bei Mourek – in erster Linie auf laut- und sprachgeographische Fragen, sondern gehen in eine andere Richtung. Im Vordergrund steht jetzt das Interesse am Text, und dieses Interesse wird noch gesteigert, wenn der Ausgangstext offensichtlich verloren gegangen ist. Der einzige Hinweis auf diesen Ausgangstext ist der Eintrag „SEDULIUSDEGRECA“ am Beginn der Karlsruher Textfassung. Da nun aber ein solcher Text oder eine Textsammlung unter diesem Titel für den vermeintlichen Verfasser des Ausgangstextes, Sedulius Scotus, nicht bekannt ist, bleibt einzig das in den beiden Handschriften erhaltene Textglossar übrig, um mögliche Rückschlüsse auf diesen dunklen Text zu ziehen. Nach Abschluss einer eingehenden Analyse der Glossierungen und der Überlieferungsverhältnisse muss die Verfasserin zwar einräumen, dass das Textglossar keine eindeutigen Rückschlüsse auf den zugrundeliegenden Text erlaubt (S. 241). Immerhin kann durch die Analyse der Lemmata des Glossars der verlorene Text aber genauer charakterisiert werden. Es wird deutlich, dass sich ein großer Teil des Textes mit dem Alltag der Menschen beschäftigt haben muss. Angeschnitten werden Themenbereiche wie Esswaren, Getränke, Kleidungsstücke und Haushaltsgeräte [Zum Thema Kleidung und vielen der im Glossar verwendeten Lexeme vergleiche man jetzt auch: Mechthild Müller – Malte-Ludolf Babin – Jörg Riecke (Hg.), Das Thema Kleidung in den Etymologien Isidors von Sevilla und im Summarium Heinrici 1. Ergänzungsband zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 80, Berlin – New York 2012], auch die im Kloster als Nahrungsquelle wichtigen Fische spielen immer wieder eine Rolle [man vergleiche dazu jetzt Jörg Riecke, Über das Summarium Heinrici, ebd. S. 44-46]. Aber auch Lemmata zum Thema Lehre, Wissenschaft, Schule und Schreibstube ebenso wie Hinweise auf zwei Götter der griechischen und römischen Mythologie sowie Bezeichnungen für Religiöses und religiöse Handlungen kennzeichnen den Text. Der Bezug zum Thema „Griechenland“ scheint sonst aber eher lose.

Über die Rekonstruktion des Ausgangstextes hinaus bleiben auf jeden Fall die auch optisch ansprechende Glossenedition und die sorgfältige Analyse der althochdeutschen Glossen. Dabei ist es erfreulich, dass auch den kulturgeschichtlichen Zusammenhängen Aufmerksamkeit geschenkt wird, etwa im Falle der Glosse absinthium : alahsan/alahsna ‚Wermut‘. Auffällig ist hier, dass das seltene alahsan der St. Galler Handschrift wortgeographisch in den Nordwesten des deutschen Sprachgebietes weist.

Die Studie ergänzt und bereichert unser Wissen über die Entstehungsgeschichte der deutschen Sprache; kritische Einwände beziehen sich demgegenüber auf  Kleinigkeiten, die zum Teil Geschmacksfragen berühren. Nicht ganz deutlich wird (mir), für wen der Text eigentlich geschrieben wurde. Einem Fachpublikum müsste man geläufige Termini wie etwa „Lehnwort“ (S. 51, Anm. 23) in einer sprachwissenschaftlichen Dissertation wohl eher nicht erklären. Auch die durchgängige Ich-Form des Textes ist gewöhnungsbedürftig. Kleine, verzeihliche Versehen haben zudem manchmal größere Auswirkungen. So bricht die vermutlich wichtige Fußnote 1 zu Sedulius Scotus nach der ersten Zeile ab, und im Titel der Arbeit wird versehentlich vom „Sedulius de Greca“-Glossar in der Handschrift St. Gallen, Stiftsbibliothek 291 [statt recte 292] gesprochen. Das schmälert die wissenschaftliche Leistung der Verfasserin jedoch nicht.