Um 1890 begründete der Wiener Sigmund Freud (1856-1939) die Theorie der Psychoanalyse, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts international verbreitete. Auch für die jüdische Gemeinschaft in Palästina bekam sie rasch große Bedeutung.
In seiner Studie beschreibt der Psychiater, Psychoanalytiker und Historiker Eran Rolnik, wie Freuds Ideen und Schüler in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts nach Palästina gelangten. Er skizziert die wesentlichen Phasen der Etablierung der therapeutischen Disziplin und arbeitet heraus, wie sie auch die Bereiche der Pädagogik, Literatur, Medizin und Politik durchdrang. Auf der Grundlage zahlreicher bislang unbekannter Quellen und Dokumente, darunter auch unveröffentlichte Briefe Sigmund Freuds, fragt Rolnik nach der Akzeptanz und dem Einfluss der Psychoanalyse in dem durch Immigration, ethnische Spannungen, britischer Kolonialherrschaft und jüdischer Staatsbildung geprägten Umfeld.
Gerade unter Zionisten und Sozialisten in Palästina fand die Psychoanalyse rasch großen Zuspruch. In der ersten Hälfte der 1920er Jahre prägten hier maßgeblich die beiden Psychiater David Eder (1865-1936) aus London sowie der Wiener Dorian-Isidor Feigenbaum (1887-1937) die junge ‚Bewegung‘. Schon Ende des Jahrzehnts belegten Freuds Schriften neben denen von Theodor Herzl und Max Nordau den dritten Platz der von deutschsprachigen Intellektuellen ins Hebräische übersetzten Publikationen.
Das Leben der ‚Jischuw‘ (hebr. „bewohntes Land, Siedlung“) – so bezeichnet man die jüdische Gemeinschaft in Palästina vor der Staatsgründung Israels – war geprägt von einer Spannung zwischen Individualität und Kollektivität. Die freudianischen Theorien boten hier eine Projektionsfläche für die – keineswegs homogene und in sich abgeschlossene – zionistische Ideologie und das Menschenbild des ‚Neuen Juden‘. Diese dienten, „mit einem gewissen Maß an Selektivität, grober Vereinfachung und Vulgarisierung verbunden“ (S. 225), sowohl ideologisch-politischen als auch wissenschaftlich-therapeutischen Zwecken. Freuds Buch „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921), das 1928 als erste seiner Schriften in hebräischer Übersetzung erschien und in dem er den Zusammenhang zwischen Privatheit und Öffentlichkeit behandelt, wurde zur Pflichtlektüre für die Erzieher der ‚Jischuw‘.
Rolnik betrachtet auch die Ambivalenz Freuds gegenüber der eigenen jüdischen Herkunft. Sein Selbstverständnis als Psychoanalytiker, so Freuds Überzeugung, habe nichts mit seiner persönlichen oder ethnischen Zugehörigkeit zu tun. Auch ein Großteil seiner ersten Patienten und Schüler waren jüdischer Abstammung, dennoch wollte er die Psychoanalyse keinesfalls als eine ‚jüdische Wissenschaft‘ verstanden wissen. Dem Zionismus stand er eher verhalten und ambivalent gegenüber. Er glaube nicht, so schrieb er 1930 an Chaim Koffler, dass Palästina jemals ein jüdischer Staat werden könne und dass die christliche wie die islamische Welt je bereit sein würden, ihre Heiligtümer jüdischer Obhut zu überlassen. „Auch gebe ich mit Bedauern zu, daß der wirklichkeitsfremde Fanatismus unserer Volksgruppe sein Stück Schuld trägt an der Erweckung des Mißtrauens der Araber“ (S. 92), fügt er hinzu. Er stellte sogar Palästina als grundlegende Wurzel des Jüdischen in Frage. So schrieb Freud 1932 an Arnold Zweig: „Palästina hat nichts gebildet als Religionen, heiligen Wahnwitz, vermessene Versuche, die äußere Scheinwelt durch innere Wunschwelt zu bewältigen, und wir stammen von dort [...], es ist nicht zu sagen, was wir vom Leben in diesem Land als Erbschaft in Blut und Nerven (wie man fehlerhaft sagt) mitgenommen haben“ (S. 90).
Es waren jedoch einige seiner engsten Schüler und Mitarbeiter, die entscheidenden Einfluss auf die Etablierung und Ausrichtung der Psychoanalyse in Palästina nahmen. Neben Moshe Wulff (1878-1971) und einigen anderen widmet sich Rolnik im Besonderen Max Eitingon (1881-1943), dessen Nachlass er ausgewertet hat. Der als Jugendlicher aus Weißrussland nach Deutschland eingewanderte Jude begründete 1920 die schon bald über Deutschland hinaus renommierte Berliner Psychoanalytische Poliklinik mit und finanzierte diese weitgehend privat. Sie bot den ärmeren Bevölkerungsschichten Behandlungen zu ermäßigten Preisen und diente als Ausbildungseinrichtung für angehende Psychoanalytiker. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wanderten rund 90 Prozent der etwa 200 Psychoanalytiker Mitteleuropas aus. Im Oktober 1933 emigrierte auch der überzeugte Zionist Eitingon gegen Freuds Rat und Wunsch nach Palästina und gründete dort 1933 die sich schnell etablierende Psychoanalytische Gesellschaft Palästinas und leitete 1934 das von ihm mitbegründete Psychoanalytische Institut in Jerusalem.
Mit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 nahm der deutsch geprägte Einfluss auf die israelische Psychoanalyse schließlich zugunsten amerikanischer psychologischer Einflüsse sowie anderer pluralistischer Strömungen ab. Aufgrund der anhaltenden existenziellen Bedrohung im Konflikt mit Palästina und der nach wie vor spürbaren Folgen der Shoah haben traumazentrische Theorien den Einfluss der Lehren Freuds zurückgedrängt. Dennoch wächst auch heute noch die Zahl der Anwärter auf Ausbildungsplätze am Institut für Psychoanalyse in Jerusalem stetig.
Eran Rolniks Studie ist ein Beitrag zur Historisierung der Psychoanalyse im Allgemeinen und der israelischen im Besonderen. Es gelingt ihm plausibel nachzuzeichnen, wie die freudianische Psychoanalyse sich an dem von so vielen Einflüssen und Kulturen geprägten Ort Palästina zu einer verbreiteten therapeutischen Disziplin entwickeln konnte. Dabei verzichtet er nicht auf differenzierte Betrachtungen und das Darlegen von Widersprüchen.