Die Schriften des russischen Literaturtheoretikers und Philosophen Michail Bachtin sind keine leichte Kost und stellen ihre Leser vor die Frage nach dem roten Faden. Bachtnis Texte sind von Redundanzen geprägt, terminologisch unscharf, bisweilen episch ausschweifend und mit impliziten Verweisen auf zeitgenössische Theorien gespickt, die selbst einem philosophiegeschichtlich geschulten Leser nicht unbedingt auffallen dürften. So entstehen dicht geknüpfte Begriffsgewebe, deren barocke Muster an den Rändern zerfransen und zahlreiche Anknüpfungspunkte für diejenigen bieten, die ihre eigenen theoretischen Stoffe in die textuelle Struktur einer umfassenden Kulturtheorie einarbeiten möchten. Dabei macht Bachtins Bedeutungsoffenheit eine stringente, thesengeleitete Rekonstruktion seiner Theorie zu einem so mühsamen Unterfangen, dass er meistens die undankbare Rolle des Stichwortgebers behält und darin mitunter schräge Stücke zu spielen gezwungen ist. Beispielsweise den schon klassisch gewordenen Einakter von Kristeva: Obwohl Bachtin den Namen Saussure selten erwähnt, ist seine Oppositionshaltung gegenüber strukturalistischen Ansätzen unverkennbar. Daher ist es schlicht verwunderlich, dass Kristeva den in Abgrenzung zum Strukturalismus formulierten Begriff der Dialogizität als Intertextualitätskonzeption reformuliert und damit genau der theoretischen Strömung zuschlägt, gegen die sich Bachtin mit seiner Dialogizitätskonzeption wendet. Eine Adaption der Bachtinschen Schriften unter dem Vorzeichen eigener Überlegungen ist eigentlich begrüßenswert, aber sie ersetzt keine systematische Rekonstruktion seiner Philosophie, an der sich die waghalsigen Interpretationen ihrer Kernbegriffe messen ließen. Mit Maja Sobolevas Veröffentlichung liegt nun eine Monographie vor, die sich dieser Aufgabe annimmt und Bachtins Ausarbeitungen in den Zusammenhang zeitgenössischer philosophischer Überlegungen stellt um damit die verwinkelte theoretische Architektur des bachtinschen Systems auszuleuchten. Dabei tritt Maja Soboleva mit einer eigenen These hervor, die sich im Unterschied zu den Thesen vieler anderer Bachtinrezipienten von dem theoretischen Material der Schriften Bachtins nicht nur inspirieren lässt, sondern ganz im Dienste seiner philosophischen Entwicklung und Erschließung steht. Hinzuzufügen wäre an dieser Stelle noch, dass außer der Selbstverpflichtung zur systematischen Texterschließung auch die Entscheidung, Bachtin vornehmlich als Philosophen und nicht als Kulturtheoretiker oder Literaturwissenschaftler zu lesen, innovatorisches Potential birgt. Bis auf wenige Ausnahmen ist Bachtin zumindest in der germanophonen und frankophonen Forschung zumeist denjenigen wissenschaftlichen Disziplinen zugerechnet worden, in denen das Ideal eines kohärenten theoretischen Systems nicht denselben prominenten Stellenwert besitzt, wie in der idealistisch geprägten Philosophie Kontinentaleuropas. Diese Lesart ist unter dem Eindruck der disziplinären Mehrdeutigkeit Bachtinscher Texte zwar einleuchtend, geht aber an seinem Selbstverständnis vorbei, das sich schon durch der Auswahl seiner Referenztheoretiker als von den philosophischen Diskursen seiner Zeit geprägt zeigt, sofern sich Bachtin nicht explizit in eine philosophiegeschichtliche Theorielinie stellt. Daher ist es zutiefst verwunderlich und nur mit Verweis auf die Komplexität der Sache selbst zu erklären, dass Bachtin außer von Wolfram Eilenberger hierzulande noch nicht wie beispielsweise Plessner (Exzentrische Positionalität) oder Derrida (Dekonstruktion) mit einem kompakten philosophischen Programm identifiziert wird, das jeder erfolgreichen theoriegeschichtlichen Kanonisierung vorausgeht.
Ein gewichtiger Grund für dieses Desiderat ist wie schon gesagt Bachtins bisweilen kryptische Terminologie, die hohe Metapherndichte in seinen Texten und der ihm zu eigene essayistische sprachliche Habitus, der seine gedanklichen Bewegungen zwar hervorragend kleidet, sie aber oft ziellos oder mehrdeutig erscheinen lässt. Diese und andere stilistische Rezeptionshürden machen die Suche nach einem systematischen Kern seines Werkes zu einem anspruchsvollen Rätsel, dem sich nur annehmen kann, wer dem Text entschieden eigene Interpretationen entgegenhält. Sobolevas Annahme liegt in einem tätigkeitstheoretischen Argument, das im Miteinander-Sprechen eine produktive Form der Rationalität begründet und damit eine Alternative zu universalistischen Rationalitätskonzepten und ontologischen Subjekttheorien bildet. Ausgehend von dieser These erschließt Soboleva in einem Rekonstruktionsprogramm die zentralen Begriffe des Bachtinschen Denkens, an deren erster Stelle der Begriff der Dialogizität oder der Redevielfalt steht. Dialogizität ist eine sprachlich erfolgende, reziproke Bezugnahme zweier Sprecher in einem dynamischen Konstitutionsverhältnis. Im Dialog werden nicht unabhängig vom Dialog bestehende Bedeutungen oder Informationen wie im einem technischen Übermitlungsprozess vom Sender an einen Empfänger weitergeleitet, sondern dialogintern erzeugt und modifiziert. Auf den ersten Blick erinnert diese leitende Annahme an kosensuelle Ethiken wie die von Habermas. Während dieser aber von einem gemeinsam geteilten Wertehorizont ausgeht, der durch die kommunikativen Prozesse hindurch sichtbar wird, fokussiert Soboleva in ihrer Bachtinlektüre nicht die Möglichkeitsbedingungen der Einigung in dialogischen Bezugnahmen, sondern begreift umgekehrt Bachtins Dialogbegriff als der Einigung vorgeordnete Möglichkeitsbedingung für Subjetivität. Demnach kann erst im sprachlich hergestellten Bezug auf ein Gegenüber ein Selbstverständnis erzeugt werden. Das evokative Moment betrifft damit sowohl die im Dialog zirkulierenden Bedeutungen als auch die Dialogteilnehmenden selbst, deren Subjektivität der stetigen Anerkennung und Selbstvergewisserung in der geteilten Rede bedarf. Zahlreiche Versuche, diesen Dialogbegriff Bachtins für eine sozialwissenschaftliche oder literaturwissenschaftliche Theoriebildung zu reformulieren, haben ihn in einen Diskurs- oder Kommunikationsbegriff übersetzt. Aber sowohl 'Diskurs' als auch 'Kommunikation' verkürzen Bachtins Konzept um die subjektkonstituierende Dimension des Miteinander-Sprechens und unterschlagen damit eines seiner Hauptanliegen. Soboleva hebt dieses ihrer These nach von Bachtin konsequent verfolgte Leitmotiv in den Rang eines Paradigmas, indem sie Bachtin theoretische Zeitgenossen zugesellt, die so entstehende sprachphilosophische Schnittmenge auf den Namen 'produktive Hermeneutik' tauft und durch den wiederholten Hinweis auf die anthropologische Intention Bachtins gegen eine Verwechslung mit der klassischen Hermeneutik immunisiert.
Eine besondere Rolle in dieser sogenannten 'produktiven Hermeneutik' spielt die Ästhetik. Sobolevas Bachtin legt allerdings einen umfassenden, erkenntnistheoretisch und anthropologisch unterfütterten Begriff von Ästhetik zu Grunde: 'Die Essenz der dialogischen Rationalität bildet die produktive Hermeneutik, die nicht auf das Verständnis des bereits vorhandenen Sinns, sondern des im Gespräch hervorgebrachten Sinns gerichtet ist und eine ästhetische Einstellung des Individuums zur Welt voraussetzt [10-11].' Wie in diesem Zitat ersichtlich, verengt die Ästhetik im Raum der ersten Annahmen die bachtinschen Thesen mitnichten auf den Bereich des Kunstschönen, sondern baut die ästhetische Wahrnehmung ganz im Gegenteil zu einem Leitparadigma anthropologischer Reflexionen aus. Soboleva weist in diesem Zuge darauf hin, dass Bachtin die Ästheitk in Abgrenzung zu Cohen aus ihrer Bindung an die Kunstphilsophie befreit und zu einem Explikationsmittel für jenes produktive Prinzip in der Bedeutungsentstehung erklärt, das außer literarischen Texten und anderen Kunstartefakten 'das Ganze der menschlichen Natur und des Geistes mit allen seinen Erscheindungsformen umfasst [30].' Ästhetisch ist nicht mehr lediglich ein einzelnes Artefakt, bzw. dessen Produktion oder Rezeption, sondern auch die je konkrete Selbstsetzung eines Individuums. Diese Thronerhebung der Ästhetik in den Adelsstand existentieller Möglichkeitsbedingungen ist ein weiteres Leitmotiv von Sobolevas Bachtin-Rekonstruktion. Begleitet wird es aber von dem stets hintergründig anklingenden Thema, dessen Fehlen zu deutlich vernehmbaren Dissonanzen in einer geschlossenen Theoriekomposition führen würde: ohne sich stets den immer schon dialogischen Charakter, d.h. die gegenseitige Bezugnahme in allen Seinsvollzügen zu vergegenwärtigen, lassen sich die zentralen Momente der Philosophie Bachtins nicht kohärent erschließen. So ist beispielsweise die Individuation keine Handlung, die jemand allein unternehmen kann, sondern vielmehr eine Praxis, die auf eine intersubjektive Beziehung im Medium der Sprache angewiesen bleibt und auch einen literarischen Text anstatt eines alter egos als Bezugspunkt haben kann.
In diesem Dreischritt aus einer Tätigkeitstheorie mit einem robusten Praxisbegriff in ihrem systematischen Zentrum, einer Anthropologie, die vom konkreten, sich in Selbst- und Weltverhältnissen entwerfenden Individuum ausgeht und einer für den menschlichen Selbstentwurf modellgebenden Ästhetik, durchmisst Soboleva die Schriften Bachtins und kontextualisiert sie in den philosophischen Diskursen ihrer Zeit. Bewusst entscheidet sie sich dabei gegen die in der Bachtinrezeption gängige Unterteilung in eine vordialogische, eine dialogische und eine nachdialogische Phase, um der These einer philosophischen Kontinuität Bachtins in Form der 'produktiven Hermeneutik' auch im Aufbau des Buches Gestalt zu verleihen. Inhaltlich konturiert sie Bachtin u.a. an Cohen, Cassirer, Lucacs, Heidegger, Misch, Plessner, Derrida und einigen anderen Philosophen, deren geistige Verwandtschaft mit den Thesen Bachtins vorgeführt zu bekommen den einen oder anderen überraschen dürfte. Darüber hinaus erweist sich die Arbeit an diesen theoretischen Bezügen als wertvoller Dienst an Bachtins Aktualität, denn im Horizont von dieser Vergleichsarbeit wird Bachtins Beitrag zur Lösung gegenwärtiger philosophischer und kulturtheoretischer Probleme sichtbar. Bereits erwähnt wurde die im Vergleich mit Cohen entwickelte Kritik und Neuverortung der Ästhetik als umfassende Reflexionsdisziplin, die auch soziale Phänomene wie die Alterität tangiert und damit ihre Adresse im Elfenbeinturm gegen eine in der Mitte der Gesellschaftswissenschaften tauscht. Zudem stellt die von Soboleva vorgeschlagene Lesart Optionen zur lösungsorientierten Thematisierung phänomenologischer und literaturtheoretischer Problemkomplexe bereit. Dem seelenlosen Strukturbegriff setzt Bachtin den genuin normativen, auf menschliche Tätigkeit verweisenden Architekturbegriff entgegen, substituiert den ontologisch überfrachteten Begriff des Seins durch den des Ereignisses oder des Tätig-Seins und antizipiert bedeutende Charakteristika der Dekonstruktion in seinem Polyphoniekonzept. Besonders hervorhebenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang der Vorschlag zu sein, Bachtin nicht ausschließlich in die Tradition Gadamers zu stellen, noch lediglich einen Anschluss an Konzepte zu suchen, die sich in einer Gegenbewegung zur Hermeneutik Gadamers entwickelt haben (analytische Philosophie, Diskursanalyse), sondern an und mit Bachtin einen Mittelweg aufzuspüren, den Soboleva in der besagten 'nicht-analytischen Sprechakttheorie' gefunden zu haben meint.
Eine Beschäftigung mit den Schriften Bachtins setzt sich immer dem hohen Risiko aus, ihn entweder ungewollt in einen Richterstand zur Legitimation eigener theoretischer Überzeugungen zu rufen und damit einer Sache zu verpflichten, mit der Bachtin eigentlich nichts zu tun hat. Andererseits besteht die Gefahr, in bloße Reproduktion zu verfallen ohne damit einen klärenden Beitrag zu den komplizierten und voraussetzungsvollen Schriften Bachtins leisten zu können. Auf dem schmalen Grad, der die freie Improvisation über einige Themen Bachtins von der blanken Textwiedergabe trennt, erschließt Soboleva auf eine anschlussfähige Weise einen neuen Bachtin, während sie en passant eine eigene hermeneutische These an seinen Schriften profilliert und damit die philosophische Diskussion bislang unbeachteter Dimensionen seiner Schriften ermöglicht. Weder erschließt sie ihn ausschließlich über die textuellen Bezüge zu zeitverwandten Autoren, was zu seiner Historisierung führen würde, noch löst sie sein Werk vollständig aus den zeitlichen und kulturellen Kontexten seiner Entstehung heraus. Dass auch Probleme einer mit Bachtin explizierbaren 'produktiven Hermeneutik' zur Sprache kommen, wie der schon in Bezug auf Derrida sattsam bekannte Relativismusverdacht oder der auch hier nicht gänzlich zu entkräftende Soziologismusvorwurf, spannt indes einen neuen, allerdings nur im Vorübergehen sichtbaren Problemhorizont auf, in den sich hoffentlich zahlreiche andere Wissenschaftler mit ihren Anschlussforschungen stellen werden. Die These, Bachtins Werk mit einem tätigkeitstheoretischen Argument Einheit zu verleihen, könnte für diese zukünftigen Interpetationsvorhaben hilfreich sein.