Vererbung
Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts

Um sich ein Bild von einer derartigen, kritisch sensibilisierenden Anwendung der historischen Epistemologie zu machen, reicht ein Blick in Rheinbergers und Müller-Willes bei S. Fischer erschienenem Titel: 'Vererbung. Kultur und Geschichte eines biologischen Konzepts'. Vererbung wird hier als heterogener Diskurs rekonstruiert, der zahlreiche Überschneidungen mit anderen Diskursen aufweist und historisch rekonstruktiv in dieser vielschichtigen Verflechtung gewürdigt werden muss. Selbst die Objektivierung der 'Vererbung' zu einem messbaren Gegenstand der Biologie befreit sie nicht gänzlich von ihrer Abhängigkeit zu anderen naturwissenschaftlichen Sprachspielen, zeitgeschichtlichen Tendenzen oder ideologischen, religiösen und weltanschaulichen Einflüssen. Rheinberger und Müller-Wille folgen an dieser Stelle der nahe liegenden Rede von einem 'Wissensregime' und bringen damit treffend zum Ausdruck, dass die logische Grammatik des Vererbungskonzeptes mit gesellschaftlichen Praktiken korreliert und folglich in die Gründung und Gestaltung öffentlicher Institutionen eingeht. Das in Institutionen realisierte begriffliche Konzept der Vererbung unterliegt somit einer sozialen Dynamik, die rekonstruktiv als semantische Spur im Begriff lesbar bleibt.
Mit Rheinberger und Müller folgen wir dieser Spur und passieren dabei Botanische Gärten, die schaurigen eugenischen Einrichtungen der faschistischen Systeme und erhalten immer wieder einen Einblick in die biologischen Laboratorien, deren Geräte und Messmethoden den Bereich möglicher Erkenntnis präformieren und somit das Design des Vererbungsbegriffes entscheidend bestimmen. Dabei fällt auf, dass die Explikation des Vererbungsbegriffes auf eine bildliche Ausdrucksweise angewiesen ist, was allerdings nicht verwundern sollte angesichts der Tatsache, dass das Konzept eines körperlich lokalisierbaren Vererbungsprozesses selbst einer Analogie zur gesellschaftlich reglementierten Güterdistribution folgt. Seine Herkunft aus dem Bereich gesellschaftlicher Regeln mag vielleicht auch die außergewöhnliche normative Durchschlagkraft des Vererbungskonzeptes erklären, das mal mit den Vorgängen auf einem Postamt, dann mit den demokratischen Prozessen im Parlament, einem Raubüberfall, Laborexperiment oder Wochenmarkt verglichen, als zirkuläre oder distributive Bewegung beschrieben und schließlich in einer linguistischen Analogie als Code metaphorisiert wird. Vererbungsprozesse sind als Vorgänge oder Zustandsveränderungen auf eine Beschreibungsform angewiesen, die ihrer internen Dynamik Rechnung trägt und sich dennoch durch eine gewisse kommunikative Verlässlichkeit auszeichnet, was die in Punkto Genauigkeit benachteiligte Metapher auf den Plan ruft. Doch trotz der zahlreichen Unbestimmtheitsstellen, die eine metaphorische Rede notwendig evoziert, lässt sich das Bestreben nachweisen, Vererbungswissen mit einer jedem Zweifel enthobenen Geltungsmacht auszustatten, die im schlimmsten Fall zur Legitimation biopolitischer Interventionen herangezogen wird. Rheinberger und Müller-Wille weisen aber im Gegensatz zu anderen Autoren darauf hin, dass der naturalistische Universalismus in der Bestimmung von Vererbung und verwandter Begriffe auch emanzipatorische Wirksamkeit entfalten kann ' etwa in der Schrift des wenig bekannten Biologen Harvey, der mit seiner 'Konzeption von Zeugung [...] zeitgenössische Themen ' etwa das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, Mann und Frau, Autonomie und Gleichheit der Individuen oder die Universalität lebendiger Kräfte und Substanzen ' [berührte], durch die sich traditionelle, im Wesentlichen partriachale Machtverhältnisse radikal in Frage gestellt sahen.' Und auch die mit zunehmender Dauer des Vererbungsdiskurses eintretende Ausrichtung an positivistischen Präzisionsidealen zeitigt einen doppelten Effekt, der sich mal zu Gunsten sozialer und kultureller Diskriminierungen auswirkt, dann aber wieder sexistische und rassistische Kategorien unterminiert.
Paradoxerweise geht die Thronerhebung des Vererbungskonzeptes in den Adelsstand sicheren Wissens mit seiner zunehmenden begrifflichen Komplexitätssteigerung und funktionalen Ausdifferenzierung sowie dessen Entfremdung von den Evidenzen unserer unmittelbaren Alltagserfahrungen einher. 'Das moderne Erfahrungswissen bezeichnet für die Lebenswissenschaften eine Schwelle, die nach Gaston Bachelard für das moderne Wissen insgesamt charakteristisch ist: Es ist bis zu einem gewissen Grad kontra-intuitiv, nicht für die individuelle Lebensführung direkt relevant, sondern richtet sich an der Organisation des Erkenntnisprozesses aus, oder, wie Bachelard sich ausdrückte, >>der Realität des Laboratoriums<<.' Der Ertrag dieser Entfremdung von den alltäglichen Evidenzen zugunsten einer an der experimentalen Theoriebildung und Laborpraxis orientierten technischen Bestimmung besteht in der hohen integrativen Kraft, mit der die naturwissenschaftliche Terminologie die rechtlich-politischen, medizinischen, naturgeschichtlichen und anthropologischen Aspekte des Vererbungskonzeptes zueinander ins Verhältnis setzt und zugleich auf sich bezieht. Höhepunkt dieser Verdichtung ist die Verdinglichung der Vererbung im Gen, die Rheinberger ebenfalls metaphorisch argumentierend als Übergang vom epistemischen Raum der Vererbung zum epistemischen Objekt beschreibt und mit der Entstehung, Professionalisierung und Spezialisierung der modernen Biologie in Verbindung bringt. Seine detaillierten Analysen wissenschaftlicher Praxen zeigen, dass die logistischen und institutionellen Rahmenbedingungen der Genetik in ihre Objektkonstitution eingehen, ohne dass dadurch ein einheitlicher Begriff von Gen zustande kommt: 'Ersichtlich wird aus diesen Entwicklungen, dass sich der Genbegriff der klassischen Genetik bei weitem nicht auf einen Nenner bringen ließ.' Und da die Materialisierung des Konzeptes der Vererbung im Gen durch die Laborapparate bestimmt wird, die in diesem Prozess zum Einsatz kommen, ist dieser  Vedinglichungsprozess an die unabschließbaren Optimierungs- und Innovationsprozesse in der Biotechnologie gebunden, deren Entwicklung das Genparadigma modifiziert und gegebenenfalls gänzlich zur Disposition stellen kann. Wir befinden uns in einem hermeneutischen Zirkel, in dem biologische Begriffsbildung und Forschungstechnologie einander umkreisen und wechselseitig neu bestimmen. 'Die Konsequenz dieser Annahme ist, dass neue biologische Technologien die älteren Leitvorstellungen [des Gens] historisieren werden.'
In diesen Zusammenhang gehören letztlich auch die Problemfelder der manipulativen Genetik sowie die heikle Frage nach der Patentierung von Genen, die mit einem wissenschaftskonstruktivistischen Ansatz einer konsequenten Klärung zugeführt werden kann. Denn wenn die Verschränkung von Experimentalsystem und wissenschaftlichem Objekt kennzeichnend für die Biologie sein sollte, kann nur das vergleichsweise stabile Experimentalsystem zur optischen Ausprägung des Gens und nicht das Gen selbst zum Patent gebracht werden. Denn im Gegensatz zum labortechnischen Apparat ist sein ontischer Status noch nicht geklärt: Der Genozentrismus der Biologie des 20. Jahrhunderts [...] war [...] epistemologisch und nicht ontologisch begründet, obwohl er zumeist ontologisch interpretiert wurde.' Eine gewinnbringende Erkenntnis am Ende der Lektüre dieses Bandes ist zweifelsohne, dass eine konstruktivistische Perspektive auf Wissenschaft und Wissensbildung mitnichten in einem ethisch blinden Relativismus mündet, sondern ganz im Gegenteil zu einer differenziereten und lösungsorientierten Reformulierung normativer Aporien führen kann.
Mit der exemplarischen Rekonstruktion des Vererbungskonzeptes haben Rheinberger und Müller-Wille nicht nur eine beeindruckend quellenkundige wissenschaftsgeschichtliche Ausarbeitung vorgelegt, in der sie philosophischen und biologischen Verstand leichtfüßig synthetisieren, sondern bringen en passant das ambitionierte Programm einer 'Historischen Epistemologie' zur Anwendung. Bleibt zu hoffen, dass es bei dieser einen Anwendung nicht bleibt.