'Angewandte Ethik', 'Theorien der Gemeinschaft', 'Phänomenologie', 'Semiotik': die jüngsten Titel der schon zur Institution gewordenen Einführungsreihe von Junius lesen sich wie eine Inventarisierungsliste des gegenwärtigen philosophischen Theorienkanons. Dagegen ist das Bändchen des Philosophen und Biologen Hans-Jörg Rheinberger schon im Titel eigentümlich unbestimmt. Wer das Komposita 'Historische Epistemologie' liest oder hört, hat zunächst Schwierigkeiten, die beiden schon für sich vagen Begriffe mit einer eigenständigen theoretischen Disziplin in Verbindung zu bringen und wird auf der Suche nach diesem Begriff auch in der Philosophiegeschichte nur bei wenigen, bisher meist wenig beachteten und hierzulande kaum kanonisierten Autoren fündig. Offensichtlich ist die 'Historische Epistemologie' kein Konzept der Theoriegeschichte, wie beispielsweise die in weiten Teilen der scientific community längst abgefeierte Phänomenologie oder die linguistisch fortgesetzte Semiotik, sondern sie ist umgekehrt ein theoriegeschichtliches Konzept, dass Rheinberger selbst aus der wissenschaftsphilosophischen Taufe gehoben und mit einem Zitat des französischen Wissenschaftstheoretikers Gaston Bachelard betitelt hat. Was verbirgt sich nun hinter diesem Namen, dessen publizistische Nachbarschaft in einer Reihe mit den bekannten Strömungen der Geistesgeschichte bereits das ehrgeizige Programm einer erfolgreichen Schulbildung ankündigt? 'Epistemologie', so lesen wir auf S. 11, sei 'die Reflexion auf die historischen Bedingungen, unter denen, und die Mittel, mit denen Dinge zu Objekten unseres Wissens gemacht werden, an denen der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung in Gang gesetzt sowie in Gang gehalten wird.' Nun gehört die Untersuchung der dynamischen Genese von Geltungsbedingungen vor dem Hintergrund ihres historisch-gesellschaftlichen Horizonts spätestens seit Foucault zum festen Bestandteil jeder soziologischen und philosophischen Einführungsveranstaltung in die Wissenschaftstheorie; und wird der Sinn des Wortes 'Diskurs' so weit gefasst, dass er auch Handlungen und ihre Mittel umschließt, könnte in Bezug auf die oben zitierte Bestimmung tatsächlich von einem diskurstheoretischen Ansatz gesprochen werden. Doch Rheinberger geht weiter, weil er nicht nur die Konstruktionsbedingungen von Wissen und Erkenntnis unter besonderer Berücksichtigung der ihnen zugrunde liegenden sozialen Praxen rekonstruiert, sondern in einem weiteren Schritt die Theorien der Wissensgenese selbst einer eingehenden Analyse unterzieht, um auch diese als spezifische Artikulationen zeithistorischer, kultureller und vor allem pragmatischer Vorbedingungen auszuweisen. Während die Wissenschaften in der Beschäftigung mit ihren spezifischen Gegenständen objektives Wissen generieren und die Wissenschaftstheorie diesen Prozess analysiert, stellt Rheinberger in einem nachfolgenden Schritt die Frage nach den Geltungsbedingungen der wissenschaftstheoretischen Reflexion. Dabei ist er wie Foucault davon überzeugt, dass die systematisierende, synchrone und die historische, diachrone Perspektive wechselseitig aufeinander verweisen, begriffliche Verhältnisse also immer von der Spur ihrer geschichtlichen Entstehung gezeichnet sind. Der durch den Titel suggerierte und in der Gliederung angedeutete Vorrang des Historischen berechtigt zwar zu der Vermutung, dass wir es bei dieser Einführung mit einem linearen Referat entlang der chronologischen Folge epistemologischer Theorien zu tun haben, aber der historische Auftakt leitet schnell in ein assoziationsreiches Spiel mit wissenschaftstheoretischen Entwürfen über, das mit einer konventionellen Wissenschaftsgeschichte nichts mehr gemein hat. Indem Rheinberger eine überraschend unkonventionelle Auswahl an Autoren trifft, in der Wiedergabe ihrer Theorien pointiert Akzente setzt, sie im gegenseitigen Vergleich abermals neu perspektiviert und Wertungen unverhohlen zum Ausspruch bringt, erzeugt er ein eigenständiges Narrativ, hinter dem Konturen eines eigenen Ansatzes zum Vorschein kommen. Die Wissenschaftsgeschichtsschreibung ist lediglich das epische Vehikel, das Rheinberger gegen die metaphysische Ideologie einer zeitlosen Geltung harter wissenschaftlicher Fakten führt.
Wissen ist, seinem Ansatz zur Folge, nicht lediglich die angemessene Wiedergabe von sprach- und praxisautarken Sachverhalten in der Welt, wie Korrespondenztheoretiker gerne behaupten, sondern das Resultat eines komplexen Evokationsprozesses, in den zahlreiche unkalkulierbare Variabeln, wie unvorhersehbare Zufälle im Laboralltag, die Zweckautonomie des handelnden Forschers, die jeweils politisch dominante Ideologie, die Beschaffenheit technischer Apparate, kollektive Bedürfnisse oder diskursive Prozesse eingehen. Wird in Rechnung gestellt, dass Wissenschaften ihre Objekte in diesen Kontingenzräumen konstituieren, muss die Geschichte der wahrgenommenen Dinge um eine Geschichte unserer Wahrnehmung, muss die Beschreibung von Sachverhalten in der Welt um eine Beschreibung unserer wandelbaren Konzepte derselben ergänzt werden. Schon Diltheys Überlegungen zu den begrifflichen Konzeptualisierungen der Physik veranschaulichen, dass ihre Kategorien nicht von der Natur vorgegeben werden, sondern konkreten, handlungsgeleiteten Bedürfnissen entspringen. 'Kraft', 'Atom' und 'Molekül' sind in diesem Verständnis sowohl Modelle von Phänomenen einer komplexen Laborpraxis als auch Modelle für die Realisierung lebensweltlicher Interessen. Scheitert beispielsweise die Konstruktion eines Apparates an den zu Grunde gelegten Modellen, müssen diese so lange modifiziert werden, bis sie sich auf der Ebene ihrer Anwendung durch die reibungslose Funktion des mit ihrer Hilfe konstruierten Apparates verifizieren lassen. Ein Gedankengang, der zunächst trivial erscheint, aber angesichts des heute wieder diskutierten Verständnisses von Naturwissenschaft als photographischer Abbildung einer gegebenen universalen Architektur nicht oft genug betont werden kann.
Nicht alle Autoren, mit denen Rheinberger für diese These streitet, gehören zum wissenschaftstheoretischen Kanon: Neben den bekannteren Gestalten wie Dithey, Mach, Husserl, Bachelard, Fleck, Popper, Cassirer, Kuhn, Feyerabend, Latour oder dem bereits erwähnten Foucault werden auch gegenwärtig weniger diskutierte Wissenschaftstheoretiker wie Duhem, Du Bois-Reymond, Boutroux, Poincaré, Neurath, Toulmin, Koyré oder der in diesem Kontext selten anzutreffende Derrida als Kronzeugen des historisch grundierten Wissenschaftskonstruktivismus angerufen. Während Rheinberger die frühen Vertreter der historischen Epistemologie zu Referenzpunkten ausbaut, auf die er die folgenden Darstellungen vergleichend bezieht, schwingen die historisch späteren und demzufolge am Ende des Bandes erwähnten Autoren im Subtext auch der ersten Kapitel mit. So verschränkt Rheinberger die verschiedenen Variationen der historischen Epistemologie zu einer kohärenten Thesenarchitektur, deren Rohbau manigfaltige systematische Anschlussmöglichkeiten bereitstellt. Wie Derridas Dekonstruktion bietet sich die historische Epistemologie nicht als eine gegenstandinvariante Methode dar, sondern als Lesestrategie in der Verfolgung eines spezifischen Erkenntnisinteresses, das auch andere Autoren oder Themengebiete betreffen könnte. Das eröffnet die Möglichkeit einer Erweiterung des Projektes, lenkt aber auch die Aufmerksamkeit auf das, was bisher unterlassen wurde.
Beispielsweise wäre es spannend gewesen, einen repräsentativen Vertreter hermeneutisch strukturierten Wissens ausführlicher zu würdigen, um somit eine historische Epistemologie philologischer Erkenntnis anzudeuten, und auch das viel versprechende Schlusskapitel zur historischen Anthropologie ist mit seinen beiden einzigen Protagonisten Latour und Hacking ein wenig dünn bestellt. Zudem hätte im Sinne der Programmpolitik der Junius Einführungsreihe ein kurzer Querverweis auf die aktuellen wissenschaftsphilosophischen Debatten die Relevanz des dargestellten Projektes verdeutlicht und zugleich eine wohltuende Erdung der recht komplexen Materie bewirkt. Gerade die populärwissenschaftlichen Interpretationen von lebens- und naturwissenschaftichen Forschungsergebnissen umgeben sich gerne mit der Aura räumlich und zeitlich uneingeschränkter Geltung, hinter der sie ihre eigenen Voraussetzungen und die Kontingenz ihres Entstehens verschleiern, und beziehen auf diese Weise auf dem hart umkämpften Feld öffentlicher Meinungen die nahezu unangreifbare Position faktischer Evidenz. Wer einen Blick in die aktuellen Wissenschaftsfeuilletons wirft, findet zahlreiche Belege für diese rhetorische Strategie, etwa in der gegenwärtigen Debatte um die normativen Implikationen aktueller neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Viele Schlussfolgerungen, wie die, Geist eines Tages virtuell verfügbar machen zu können, beziehen ihren Kredit aus dem menschlichen Unvermögen, in die Zukunft zu schauen, während andere Thesen, wie die, dass das Konzept des freien Willens eine neuronale Illusion und unser Rechtssystem daher reformbedürftig sei, kategorialen Konfusionen entspringen, indem sie normative und deskriptive Satzformen vermengen. Allen gemein ist aber, dass sie an die letztbegründende Faktizität (natur)wissenschaftlicher Erkenntnisse glauben, und die Geschichte der Erkenntnis als teleologischen Prozess einer Abfolge verschiedener Irrtümer beschreiben, dessen Ende diejenigen klärenden Erkenntnisse eingeleitet haben, die nun zu ihren windigen Thesen führen. Wer der Beschäftigung mit der historischen Genese des Konzeptes wissenschaftlicher Erkenntnis eine heilende Wirkung zuschreibt, wird nicht leugnen können, dass der therapeutische Effekt einer Genealogie der Epistemologien noch wirksamer sein dürfte.