Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933-1945
Dokumentation und Auswertungen

Mit dem Erscheinen dieses Doppelbandes kommt nach mehr als dreißigjähriger Bearbeitungszeit ein groß angelegtes Forschungsvorhaben zum Abschluß, das die Sprachgeschichtsschreibung für das 20. Jahrhundert auf eine neue Grundlage stellt. Nachdem ursprünglich geplant war, das Material in drei Einzelbänden zu veröffentlichen, erschienen zunächst 1996 und 2004 im Osnabrücker 'secolo-Verlag' die Bände 1 (A ' F) und 2 (G ' Q); man vergleiche dazu die Besprechungen im 'Wissenschaftlichen Literaturanzeiger' (Heft 38,2; 1999, S 32 und WLA-online 2007,1). Dem 'Stauffenburg Verlag' ist sehr zu danken, dass das gesamte Werk nun in einer ansprechenden und vor allem stabilen Form vorliegt, die auch der zu erwartenden intensiven Benutzung standhalten wird.
Eine intensive Nutzung ist vor allem deshalb zu erwarten, weil das ganze Ausmaß der durch die nationalsozialistische Verfolgung erzwungenen Vertreibung deutschsprachiger Sprachwissenschaftler ' über die je individuelle persönliche Tragik hinaus ' erst in dieser Gesamtschau deutlich wird. Eine solche Gesamtschau gibt Aufschluss über die Lebensläufe von Allgemeinen Sprachwissenschaftlern und Indogermanisten, Klassischen Philologen, Germanisten und Jiddisten, Anglisten und Romanisten, Slavisten, Indologen und Iranisten, Keltologen sowie dem Albanologen Norbert Jokl und dem Hethitologen Hans Gustav Güterbock. Die nicht-indogermanischen Sprachen sind vertreten durch Semitisten, Ägyptologen, Turkologen, Finno-Ugristen, Sinologen, der Erforscherin der australischen Sprachen Luise Anna Hercus, den Altaisten Karl Heinrich Menges und den Tibetologen Berthold Laufer. Diese Übersicht deutet bereits an, dass für eine Darstellung, die mehr als bio-bibliographische Daten geben will, ein außerordentlich weiter sprachwissenschaftlicher Horizont gefordert ist. Für die Sprachwissenschaft ist es ein Glücksfall, dass Utz Maas diesen Horizont besitzt und dass er bereit war, einen sicher nicht geringen Teil seiner Arbeitskraft in dieses Unternehmen zu investieren. Denn Utz Maas bietet tatsächlich mehr als Daten und Fakten, er modelliert in jedem einzelnen Fall ' soweit es die Quellenlage zulässt ' wissenschaftliche Profile, aus denen bei aller Faszination im Einzelnen ' als Beispiel für einen der besonders abenteuerlichen Lebenswege sei auf den Artikel zu Karl Heinrich Menges verwiese ' ganz nebenbei die ungeheure Vielfalt der Erkenntnisziele, Methoden und Anschauungen der Sprachwissenschaft der Jahre zwischen etwa 1880 und 1933 zu Tage tritt. Die Verfolgung und Vertreibung der deutschsprachigen Sprachwissenschaftler hat schließlich zu massiven Umbrüchen in den individuellen Lebensläufen geführt, die in vielen Fällen direkt in den Tod führten. 23 der 310 erfassten Sprachwissenschaftler sind unmittelbar oder mittelbar durch nationalsozialistische Gewalt umgekommen. Für die meisten anderen bedeutete die Emigration einen Neuanfang, mit dem je nach fachlichen und persönlichen Konstellationen manche besser, mancher weniger gut zurecht gekommen sind. Die Sprachwissenschaft in Deutschland scheint von dieser Entwicklung aber zunächst kaum berührt zu werden. An den meisten Instituten wurde ohne erkennbare Umbrüche weiter gelehrt und geforscht wie zuvor. An 13 der 29 Universitäten des Reiches und Österreichs, die schon 1930 bestanden, blieben beispielsweise die sprachgermanistisch-altsprachlich ausgerichteten Lehrstuhlinhaber während der gesamten 12 nationalsozialistischen Jahre durchgängig im Amt, an den meisten anderen Universitäten kam es zu regulären altersbedingten Wechseln. Vertrieben wurden dagegen die Professoren Agathe Lasch in Hamburg, Hans Sperber in Köln, Konstantin Reichardt in Leipzig und Friedrich Ranke in Breslau. Zu nennen ist hier auch der Hamburger Jiddist Salomon A. Birnbaum sowie eine kleine Zahl von Privatdozenten und Assistenten, auch der Marburger Finno-Ugrist Hermann Jacobsohn, der Anfang der 30er Jahre dem Marburger Sprachatlas als kommissarischer Leiter vorstand. Charakteristisch ist es auch, dass viele jüngere Wissenschaftler, Beispiele wären hier Helene Adolf oder Arno Schirokauer, von vorn herein gar keine Gelegenheit bekamen, sich in Deutschland oder Österreich mit Aussicht auf eine wissenschaftliche Laufbahn zu qualifizieren.
Wenn also auf Grund der personalen Kontinuität an den Universitäten, in der Germanistik und wohl in vielen anderen Fächern auch, durch Verfolgung und Auswanderung keine fachlichen Umbrüche zu verzeichnen sind, so haben diese Vorgänge die Entwicklung der Sprachwissenschaften doch, das zeigt sich wieder am Beispiel der Germanistik, auf lange Sicht stark beeinflusst. Stärker noch als Utz Maaß würde ich betonen, dass vielversprechende Ansätze nach 1933 nicht weiter verfolgt (Helene Adolf, Hans Sperber) und auch in der Nachkriegszeit nicht oder nur punktuell wieder aufgegriffen wurden.
Manchmal jedoch, wie im Falle des Romanisten Victor Klemperers, erweist sich die erzwungene Umorientierung gar als ein Glücksfall für die Fachgeschichte. Klemperers Aufzeichnungen zur 'Sprache des Dritten Reiches' werden heute, verspätet und nach vielen Missverständnissen, als Gründungsdokumente einer modernen Diskursanalyse gelesen. Eine wichtige Rolle für die Erforschung der australischen Sprachen spielt beispielsweise die Münchnerin Luise Anna Hercus, die mit ihren Eltern auswanderte, Romanistik und Indologie studierte und erst 1956 nach Australien kam, wo ihre akademische Karriere mit der Umorientierung auf die australischen Sprachen eine neue Richtung nahm.
Die Gründe für ihre Verfolgung und Vertreibung werden von den Betroffenen unterschiedlich wahrgenommen, sie beruhen in der Mehrzahl der Fälle auf ihrer jüdischen Herkunft. Eine Reihe von politischen Gegnern des Regimes kommt hinzu. Nicht immer wird der konkrete Verfolgungsgrund im Einzelfall sofort ersichtlich. 'Jüdisch ist ein Terminus, der nur dort verwendet wird, wo die Betroffenen ihn für sich selbst reklamiert haben, was im Regelfall im Sinne eines religiösen Bekenntnisses geschah ...' 2, 27). Der Auswertungsteil begründet die vielfältigen, oft schwierigen Entscheidungen der Datenbearbeitung und macht sie, auch dort, wo man im Einzelfall anders gewichten würde, nachvollziehbar. Auch die Frage nach einer ''Jüdischen' Wissenschaft?' (2,162-164) kann jetzt mit neuen Argumenten diskutiert werden.
Es ist Utz Maas gelungen, allen hier vertretenen Sprachwissenschaftlern gerecht zu werden. Das heißt insbesondere, dass auch fachliche Erkenntnisziele, Methoden und Positionen, die weit ab von den Interessen liegen, die zum eigenen wissenschaftlichen Profil des Sprachwissenschaftlers Utz Maas gehören, gleichermaßen gewürdigt werden. So erschließt sich für den germanistisch interessierten Leser etwa eine Linie vom Romanisten Carl Vossler zu Victor Klemperer und mit ihr eine Sprachwissenschaft, die sich nicht nur gegen die einseitige Orientierung an der Sprachstruktur, sondern auch gegen die Reduktion der Sprache als Kommunikationsmittel wendet. Damit bereitet Vossler eine Sicht auf die Sprache vor, die als Teil der kulturellen Praxis verstanden wird und der Diskursanalyse wie der historischen Semantik (Hans Sperber, Leo Spitzer, Helene Adolf) eine neue Richtung gibt. Es wird hier der Boden für eine sprachwissenschaftlich-kulturanalytische idealistische Neuphilologie bereitet, die in der Nachkriegszeit keine einflussreichen Nachfolger fand.
Der Katalog nennt viele Namen, die heute auch in ihren Fächern vergessen sind. Er enthält aber auch Artikel etwa zu Käthe Hamburger und Walter Benjamin, zum Indologen Heinrich Zimmer oder dem Sinologen und I Ging-Interpreten Hellmut Wilhelm. Es wird deutlich, in welch vielfältigen Bezügen Sprachwissenschaft betrieben und geschätzt wurde. Utz Maas erschafft eine 'Kulturgeschichte der Wissenschaftsgeschichte', wie sie für den Bereich der Sprachwissenschaft bisher ohne Beispiel ist.