Die Prager Germanistik nach 1882
Mit besonderer Berücksichtigung des Lebenswerks der bis 1900 an die Universität berufenen Persönlichkeiten

Nachdem Milan Tvrdik und Lenka Vódra¸ková-Pokorná 2006 mit ihrem Sammelband 'Germanistik in den böhmischen Ländern im Kontext der europäischen Wissenschaftsgeschichte (1800'1945)' einen ersten Überblick über die Geschichte der Germanistik in den böhmischen Ländern vorgelegt haben, folgt nun mit Lenka Vódra¸ková-Pokornás umfangreicher Studie eine willkommene Vertiefung und Ergänzung für unsere Kenntnis der Geschichte der Germanistik in Prag. Die Arbeit beruht auf der Auswertung zahlreicher Archivdokumente und der Nachlässe der Hauptvertreter der Prager Germanistik vor 1900.
Im Zentrum des Bandes steht das Wirken der Prager Germanisten nach der Teilung der Universität im Jahre 1882. Es begegnen hier die Namen der schon im Sammelband von Milan Tvrdik und Lenka Vódra¸ková-Pokorná vorgestellten Forscher, also vor allem Adolf Hauffen, Josef Janko, Johann Nepomuk Kelle, Hans Lambel, Ernst Martin und August Sauer, aber man erfährt darüber hinaus auch neues über solche Gelehrte, die nur vorübergehend und nicht in der Stellung eines ordentlichen Professors in Prag gewirkt haben, etwa zum späteren Wiener Ordinarius Jakob Minor, der von 1882 bis 1885 in Prag als Privatdozent und ao.Professor tätig war. Mit Minors Berufung vollzog sich auch in Prag die in Wien schon eingeführte Trennung in eine Professur für ältere deutsche Sprache und Literatur und eine Professur für neuere deutsche Sprache und Literatur. Minor richtete sein Augenmerk in Prag besonders auf die Literatur der Aufklärung, Klassik und Romantik.
Lenka Vódra¸ková-Pokorná will aber keineswegs und vor allem eine Personengeschichte schreiben. Die besondere Bedeutung ihrer Arbeit liegt in der Beschreibung der Entwicklungsgeschichte der Prager Germanistik als Geschichte zweier 'Nationalphilologien', die spätestens 1882, nach der Teilung der Universität in die tschechische Karls-Universität und eine Deutsche Universität eine neue Rolle finden mussten. Es konnte den Prager Germanisten also von vorn herein nicht nur um die Binnenperspektive des Faches gehen. Die fachinterne Professionalisierung im Sinne einer fachlichen Spezialisierung durfte also nicht das Hauptziel der Fachvertreter sein ' obwohl sie hier nicht wenig geleistet haben. Daneben und darüber hinaus wurden sie vor die Aufgabe gestellt, die 'national-kulturellen Spezifika' (S. 15) der böhmischen Länder von ihrem je eigenen ' deutschen bzw. österreichischen und tschechischen Standpunkt aus zu erfassen. Vor allem die tschechischen Germanisten mussten zudem versuchen, die Bedeutung und den Sinn der Erforschung der deutschen Sprache und Literatur in den böhmischen Ländern zu erklären. Die 'kulturell-gesellschaftliche Tätigkeit', die sich in Vereinsmitgliedschaften, öffentlichen Vorträgen und Zeitungsartikeln, bei den tschechischen Germanisten besonders auch in zahlreichen Übersetzungen deutschsprachiger Texte zeigt, nimmt daher einen ' je nach Person etwas unterschiedlich gewichteten ' hohen Anteil ihrer Arbeit ein. Lenka Vódra¸ková-Pokorná hat diese Zusammenhänge sorgfältig dokumentiert und beschrieben. Mit ihrer 'Prager Germanistik nach 1882' hat sich nun auf niveauvolle Weise eine weitere Lücke in der germanistischen Fachgeschichtsschreibung, vor allem in Hinblick auf die kulturgeschichtliche Wirkung einer 'Nationalphilologie' am Rande des deutschsprachigen Raumes, geschlossen.