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Germanistik in den böhmischen Ländern im Kontext der europäischen Wissenschaftsgeschichte (1800-1945) - WLA-Online - Wissenschaftlicher Literaturanzeiger
Germanistik in den böhmischen Ländern im Kontext der europäischen Wissenschaftsgeschichte (1800-1945)

Eine tschechische germanistische Forschergruppe um Milan Tvrdík und Lenka Vódra¸ková-Pokorná gibt in diesem Sammelband einen ersten, höchst lesenswerten Überblick über die Geschichte der Germanistik in den böhmischen Ländern. Der Band ermöglicht einem deutschsprachigen Publikum Einblicke in die Anfänge der deutschen Nationalphilologie in Prag und in die Phase der Teilung der Universität in die tschechische Karls-Universität und eine Deutsche Universität mitsamt ihren Folgen für die Entwicklung der tschechischen Germanistik. Darüber hinaus sorgt er für ein vertieftes Verständnis für die Bedeutung der germanistischen Sprach- und Literaturwissenschaft an der Masaryk-Universität in Brünn. 16 bio-bibliographische Portraits wichtiger Vertreter der Prager und Brünner Germanistik von ihren Anfängen bis um 1945 runden den Band ab.
Die sieben Einzelbeiträge widmen sich den folgenden Themen: Milan Tvrdík ('Lehrstuhl der 'Schönen Wissenschaften' ' Vorläufer der Lehrstühle der Nationalphilologien') schildert das Wirken der ersten Inhaber des von Maria Theresia 1763 eingerichteten Lehrstuhls an der Prager Universität Karl Heinrich Seibt, August Gottlieb Meißner und Joseph Georg Meinert. ' Václav Bok ('Wendelin Toischer ' ein halb vergessener Germanist') erinnert an den Mediävisten und Gymnasialprofessor Toischer (1855'1922), der durch seine Editionen der mittelhochdeutschen Literatur aus Böhmen, vor allem Ulrichs von Etzenbach, eine erste Grundlage für das Verständnis dieser Literatur gelegt hat. ' Die 'Anfänge der tschechischen Germanistik in Böhmen: Václav Emanuel Mourek' beschreibt Alena ¦imečková. Moureks Arbeiten zum Althochdeutschen, zum Gotischen und zum Prager Deutschen werden von Kennern noch heute zitiert, seine schwierige Rolle als erster germanistischer Lehrstuhlinhaber an der tschechischen Karls-Universität seit der Teilung von 1882 dürfte aber den wenigsten Germanisten bekannt gewesen sein. ' In Eva Berglovás Beitrag 'Zum pädagogischen Wirken der zwei Prager Professoren Václav Emanuel Mourek und Arno¨t Vilém Kraus am Ausgang des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts' werden Mourek und der auf diesem Gebiet noch bedeutendere Literaturwissenschaftler Kraus als Sprachlehrer und Schulbuchautoren gewürdigt. ' Lenka Vódra¸ková-Pokorná äußert sich 'Zu den Beziehungen zwischen den Prager deutschen und tschechischen Germanisten nach 1882', die in einer angespannten Lage dennoch ' in gewissen Grenzen ' durch Briefwechsel, Vortrags- und Rezensionstätigkeiten Kontakte aufrechterhielten. ' Zdenĕk Masařík ('Die linguistische Germanistik in Brünn) ' Antonín Beer und Leopold Zatočil' und Jiří Munzar ('Aus der Geschichte der literaturwissenschaftlich ausgerichteten Germanistik in Mähren in den Jahren 1919'1945') porträtieren schließlich die Anfänge der zweiten, 1919 gegründeten tschechischen Universität. Die Literaturwissenschaftler Jan Krejčí, Stanislav Sahánek und Arne Novák haben wie die Sprachwissenschaftler Antonín Beer und Leopold Zatočil nicht nur weithin anerkannte germanistische Arbeiten vorgelegt, die von der thematischen Vielfalt (vom Gotischen bis zur Gegenwartsliteratur) und dem hohen Niveau der Brünner Germanistik zeugen, sie haben auch ganz erheblich ' wie heute auch Zdenĕk Masařík und Jiří Munzar selbst ' zur Förderung der tschechisch-deutschen und deutsch-tschechischen wissenschaftlichen und literarischen Beziehungen beigetragen.
Neben den bereits genannten Germanisten erhalten am Ende des Bandes auch Franz Thomas Bratranek, Adolf Hauffen, Josef Janko, Johann Nepomuk Kelle, Hans Lambel, Ernst Martin und August Sauer ein 'bio-bibliographisches Porträt'. Im Vorwort der Herausgeber werden zudem auch die Namen der Lehrstuhlinhaber des Prager Lehrstuhls der Schönen Wissenschaften von 1763 bis 1849, der ordentlichen Professoren und Lehrstuhlinhaber des Lehrstuhls für deutsche Sprache und Literatur von 1849 bis 1882, der Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Sprache und Literatur am deutschen Teil der Prager Universität von 1882 bis 1945, der Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Sprache und Literatur am tschechischen Teil der Prager Universität von 1882 bis 1939 und schließlich der Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Sprache und Literatur an der Masaryk-Universität in Brünn von 1919 bis 1939 aufgelistet. Vergleicht man diese Liste mit den Beiträgen des Sammelbandes, dann drängt sich der Gedanke auf, dass ein Abschnitt der Geschichte der 'Germanistik in den böhmischen Ländern' ' insbesondere im Hinblick auf den Untertitel des Sammelbandes ' hier noch zu ergänzen wäre. Während Johann Nepomuk von Kelle, August Sauer und Adolf Hauffen wenigstens ein 'bio-bibliographisches Porträt' erhalten haben, gibt es zu den übrigen Lehrstuhlinhabern an der 'Deutschen Universität' (Ferdinand Detter, Carl von Kraus, Primus Lessiak, Erich Gierach, Herbert Cysarz, Ernst Schwarz und Erich Trunz) keine weiteren Hinweise. Das ist bis zu einem gewissen Grad verständlich, für die Zukunft würde man sich wünschen, dass mit einer Beschreibung der Germanistik im 20. Jahrhundert auch an der Prager 'Deutschen Universiät' diese Lücke noch geschlossen würde. Dieser Teil gehört ebenso zur gemeinsamen Geschichte wie das Gedenken an Arno¨t Vilém Kraus (*4. November 1859 in Třeboradice ' 16. April 1943 in Theresienstadt) und Stanislav Sahánek (*15. Juli 1883 in Trávník ' 27. Februar 1942 in Mauthausen), die Opfer des Holocaust geworden sind. Der Sammelband bereichert die Geschichte der Germanistik in Tschechien wie auch die Geschichte der Germanistik insgesamt.