Das wiedererwachte Interesse an der Person und den Schriften Victor Klemperers spiegelt sich in zahlreichen neueren Veröffentlichungen, dem Abschluss der mehrbändigen Tagebuchausgabe der Jahre 1881 bis 1960 und nun auch in der elektronischen Aufbereitung der Tagebücher für die Jahre 1933 bis 1945. Da für die meisten Leser Klemperers Aufzeichnungen unter nationalsozialistischer Herrschaft von besonderem Interesse sind, beginnt auch die Digitalisierung mit dieser Zeitspanne. Sie wird nach aber Ausweis des Vorwortes erfreulicherweise fortgesetzt.
Die vorliegende digitale Ausgabe bietet die Tagebücher von Victor Klemperer aus den Jahren von 1933 bis 1945 nun erstmals vollständig und in einer dokumentengerechten Übertragung, d. h., sie folgt in Schreibweise, Interpunktion und typographischer Darbietung (inclusive Durchstreichungen und Unterstreichungen) der Niederschrift des Originals. Außerdem enthält sie, ebenfalls vollständig, die Faksimiles der Manuskripte bzw. Typoskripte dieser Jahre zum Vergleich. Die 'dokumentengerechte' Übertragung ermöglicht gesicherte Einblicke in die sprachliche Wirklichkeit der Klemperschen Texte. Gelegentlich durchscheinende ostmitteldeutsche Eigenheiten des in Landsberg an der Warthe geborenen Literaturwissenschaftlers wie 'Brod' statt 'Brot' oder 'endgiltig' statt 'endgültig' bleiben so der Ausgabe erhalten. Dies gebietet zwar ohnehin die philologische Treue gegenüber einem gegebenen Text, wird aber bei Editionen von Texten des 19. und 20. Jahrhunderts viel zu selten befolgt. Diese Spracheigenheiten zeigen jedoch deutlich, dass die Norm der deutschen Standardsprache selbst bei Ende des 19. Jahrhunderts sprachlich sozialisierten Autoren noch keineswegs so fest war, wie dies die Grammatikschreibung heute anzunehmen scheint. Eine 'dokumentengerechte' elektronische Edition ermöglicht darüber hinaus weitere sprachliche Untersuchungen. So etwa Überlegungen zur Verteilung der Modalwörter 'buchstäblich', 'regelrecht', 'tatsächlich', 'in der Tat' und 'wirklich'. Während das heute modische 'regelrecht' ('Er hat den Ball regelrecht am Tor vorbeigeschossen') bei Klemperer noch gar nicht vorkommt, konkurrieren mit feinen Bedeutungsnuancen 'wirklich' ('Wir werden wirklich an dieser Sache zu Grunde gehen'; 501), 'buchstäblich' ('Hausangelegenheit hoffnungslos. Sie bringt Eva und mich buchstäblich ins Grab'; 147), 'tatsächlich' ('Er muß mit seiner Familie tatsächlich ein neues Leben anfangen'; 53) und 'in der Tat' ('In der Tat macht deren Mehrzahl einen verbotenen Eindruck'; 1). Die Herausgeber haben damit ein für Sprachwissenschaftler hoch willkommenes Corpus geschaffen.
Die Freude über ihre philologische Treue soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die geneigte Leserschaft in erster Linie an inhaltlichen Fragen interessiert sein dürfte. Auch hier bieten die Suchfunktionen eine Reihe von Möglichkeiten. Dazu ein Beispiel: Was konnte Klemperer beispielsweise über das Getto Lodz/Litzmannstadt erfahren? Die Ausgabe bietet drei Fundstellen: 1. 'Immer erschütterndere Nachrichten über Judenverschickungen nach Polen. Sie müssen fast buchstäblich nackt u bloß hinaus. Tausende aus Berlin nach Lodz ('Litzmannstadt'). Darüber Brief Lissy M's. Und viele Erzählungen Kätchen Saras.' (25. Oktober 1941). 2. 'Am Sonnabend Abend Ida u. Paul Kreidl bei uns. Sie haben eine Tochter vel Schwester in Prag die für Polen registriert ist. Sie waren Sonnabend gefaßter als die Tage vorher. Es lägen relativ günstige Nachrichten aus Lodz vor: saubere Baracken, gute Heizung u. Verpflegung, anständige Behandlung in den Munitionsfabriken. Das gilt nun schon als Trost.' (27. Oktober 1941). 3. 'Heute sah ich eine Postkarte mit dem Poststempel: Litzmannstadt-Getto. Darin teilte 'der Älteste der Juden' mit, daß Geldsendungen an dorthin Evakuierte erlaubt seien. Die Karte trug noch einen andern Stempel: 'Litzmannstadt, größte Industriestadt des Ostens.'' (7. Dezember 1941).
Ein weiterer Vorteil der 'dokumentengerechten' Wiedergabe liegt in ihrer Vollständigkeit. Die Buchausgabe ist nämlich nicht unerheblich gekürzt. Gekürzt wurden dort '... vor allem die zahlreichen, teilweise ausführlichen Lektüre-Notate sowie Auszüge aus der Tages- und Wochenpresse. Einige Kürzungen waren auch der Rücksicht gegenüber Personen geschuldet' (Taschenbuch-Ausgabe, Bd 1. 1999, S. 206). Auch hier ein Beispiel zum Thema Lodz:
'Ich las vor: 1) von dem Polen Reymont 'Lodz das gelobte Land'. Sehr warm wurde ich nicht. Die einzelnen Personen zerfließen zu sehr in dem Stadtbild u. der Idee, man interessiert sich nicht genug für die Individuen, man vergißt sie geradezu. Dennoch ein bedeutendes Buch. Die Industrie- u. Speculationsstadt, die ihre Menschen demoralisiert. Immer wieder Zola'sche Bilder des Fabriktreibens, der Grausamkeit, Hohlheit, Skrupellosigkeit. Am schlechtesten kommen die raffgierigen Juden weg, aber viel besser auch die Deutschen nicht. Und die Gerechtigkeit des Autors liegt darin, daß er auch seinen polnischen Helden Borowiecki brüchig werden läßt; um sich als Fabrikgründer zu behaupten, gibt er die Braut preis u. heiratet das reiche deutsche Mädchen. Am Schluß freilich setzt er sich schein sociale Ziele ' aber erst ganz am Schluß. Es gibt auch sonst auf polnischer, aber und nur auf polnischer Seite einige ideale Züge, im Wesentlichen aber auch hier Verkommenheit, Raffgier oder idealistische Phrasen oder adligen Bettlerstolz u. unfähigen Hochmut, die spanisch anmuten. Bei alledem wird die Dämonie der Stadt mit einiger schaudernder Sympathie sehr eindringlich, freilich in breiten Wiederholungen teils geschildert, teils besungen' (19. März 1934). Es folgen an diesem Tag weitere Lektüreeindrücke zu Edgar Wallace 'Geheime Mächte'. Diese Kurzrezensionen hätten es verdient, am Stück gelesen zu werden; gelegentlich geben Sie viel von der Befindlichkeit ihres Verfassers preis: '... Jetzt haben wir wieder gewichtigere Lectüre begonnen, den 'Abituriententag' von Werfel. Leider schildert er gleich Anfangs Symptome der Herzsklerose (Schmerzen im linken Arm usw.), die mir allzu gut bekannt sind. Das hat mich schwer erschüttert (21. Februar 1933).
Ob der Literaturwissenschaftler Victor Klemperer zu den 'großen Romanisten' zu zählen ist, darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Ganz ohne Zweifel gehört er aber zu den großen Zeugen des Jahrhunderts. Dass seine Tagebücher 1933 bis 1945 jetzt endgültig vollständig zugänglich sind ist ein Gewinn für die Forschung