Briefe 1937-1940

Als zehnter Band der Kritischen Ausgabe der Werke Else Lasker-Schülers liegt nun der vorletzte der Briefbände vor. Er präsentiert 556 Briefe, Postkarten und Telegramme, die Lasker-Schüler in der Zeit von Januar 1937 bis Dezember 1940 im Exil in Zürich und Jerusalem geschrieben hat. Unter den 92 Empfängern finden sich Samuel Josef Agnon, Schalom Ben-Chorin, Hugo Bergmann, Klaus Mann, Nehamia Cymbalist, als persönliche und juristische Unterstützung der Rechtsanwalt Emil Raas, die finanziellen Förderer Silvian Guggenheim und Salman Schocken, sowie ihre späte Liebe Ernst Simon.

Exil in Jerusalem
Das einschneidendste Ereignis aus diesen Jahren ist das Erlöschen von Lasker-Schülers Aufenthaltsgenehmigung in der Schweiz, in die sie 1933 geflüchtet war. Nachdem ihr als Jüdin die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt worden war, wurde ihr Antrag auf Duldung von der Eidgenössischen Fremdenpolizei am 23.8.1939 aus 'vorsorglich armenpolizeilichen Gründen, - Ueberfremdung' (S. 485) abgelehnt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Lasker-Schüler im damaligen Palästina. Der Ausbruch des 2. Weltkriegs am 1.9.1939 machte ihre Rückkehr nach Europa unmöglich. Lasker-Schüler lebte bis zu ihrem Tod in Jerusalem.
Bei ihrer Übersiedlung nach Palästina war Lasker-Schüler 70 Jahre alt. In vielen der vorliegenden Briefe spricht sie von ihren Schwierigkeiten im Exil und im neuen Land, von Einsamkeit und gesundheitlichen Problemen. Und doch zeichnen ihre Briefe nicht das Bild der unglücklich Leidenden, die von der Realität ihres oft erdichteten Orients schmerzhaft eingeholt wird, wie es in der Lasker-Schüler-Rezeption und -Forschung häufig kolportiert wurde. Vielmehr künden sie von einer unablässigen künstlerischen Aktivität, die angesichts der schwierigen Lebensbedingungen beeindruckt.
Noch in Zürich bemühte Lasker-Schüler sich um die Wiederaufführung ihres Theaterstücks 'Arthur Aronymus und seine Väter'. Im April 1937 erschien endlich ihr großes Prosawerk der Exilzeit, der poetische Reisebericht 'Das Hebräerland' im Oprecht Verlag in Zürich. Im Sommer 1937 reiste sie ein zweites Mal nach Palästina und begann ein neues Buchprojekt, das 'Zweite Palästinabuch'. 1940 entstand als dessen Teil das Exildrama 'IchundIch'. 'Niemand kennt es nur ich und ich muss - - - objektiv sagen, es ist wunderbar', urteilte die Dichterin mit dem viele ihrer Briefe prägenden Humor und der ihr eigenen Selbstironie in einem Brief an David Werner Senator (S. 320). Von 1938 bis 1940 fanden mehre Ausstellungen mit Zeichnungen Lasker-Schülers und ihres verstorbenen Sohnes Paul in Zürich, London und Jerusalem statt. Ebenso verbesserten sich Lasker-Schülers äußere Lebensumstände. Ab 1939 war sie in Jerusalem zum ersten Mal in ihrem Leben finanziell abgesichert durch Salman Schocken, den Gründer des Schocken Verlags und eine Rente der Jewish Agency.

Besondere Briefe
In den Briefen finden sich ebenso Referenzen auf die politische Situation. Den Ereignissen gewahr, denkt Lasker-Schüler oft an Freunde oder 'die Gefangenen' in Europa. Sie spricht sich für ein friedliches Zusammenleben von Juden und Arabern im damaligen Palästina aus. Besonders hervorzuheben ist Lasker-Schülers Brief an Papst Pius XII., der in einer Abschrift an Salman Schocken vom 23./24.5.1940 erhalten ist. Sie fordert das katholische Kirchenoberhaupt zu einer Stellungnahme gegen den Antisemitismus auf, wobei sie klarsichtig auf dessen christliche Wurzeln verweist (S. 287f).
Viele Briefe zeigen Lasker-Schülers nicht immer einfache Persönlichkeit. Diese führte zu Konflikten mit Freuden wie Emil Raas und Ernst Simon ebenso wie mit Gelehrten wie Martin Buber:'Mir scheint, hier Jerusalem ist nicht geeignet für Boxkämpfe oder irgend zu unfairen Angriffen.' (S. 293) oder Schalom Ben-Chorin mit dem sie in Streit über die Kabbala stand: 'Ich möchte mich direkt mal mit ihm boxen.' (S. 319).

Frühere Briefausgaben
Mit der Kritischen Ausgabe von Lasker-Schülers Werken und Briefen, herausgegeben von Andreas B. Kilcher, Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky, werden alle  überlieferten Briefe Lasker-Schülers mit Anmerkungen zugänglich gemacht. Die überwiegende Zahl der in diesem Band enthaltenen Briefe wird hier erstmals publiziert. Welche Leistung dies ist, kann erst ein Blick auf die bisherigen Briefausgaben verständlich machen. Erste Briefe Lasker-Schülers erschienen 1951 in der wichtigen, ihr Werk jedoch sehr beschneidenden Ausgabe 'Dichtungen und Dokumente', herausgegeben von Ernst Ginsberg. Publiziert wurden außerdem Briefe an einzelne Adressaten, wie Karl Kraus (1959) und Salman Schocken (1986), sowie der Briefwechsel mit Franz Marc (1988). Der Großteil von Lasker-Schülers Korrespondenz blieb jedoch unbekannt. So enthält sogar die bisher umfangreichste zweibändige Briefausgabe von Margarete Kupper, 1969 unter den Titeln 'Lieber gestreifter Tiger' und 'Wo ist unser buntes Theben' im Kösel-Verlag erschienen, für den Zeitraum 1937-1940 nur 49 Briefe. Im Vergleich mit den 556 Briefen, die der vorliegende Briefband der Kritischen Ausgabe präsentiert, wird die unglaubliche Aufgabe der Bearbeiter Karl Jürgen Skrodzki und Andreas B. Kilcher, die auf Vorarbeiten von Alfred Bodenheimer zurückgreifen konnten, deutlich.

Kritisch zu bemerken bleibt angesichts dieser enormen Leistung allein ein Manko in den Anmerkungen. Die häufigen Querverweise auf andere Bände der Kritischen Ausgabe erschweren die Arbeit mit den Briefen unnötig. Eine Wiederholung der meist knappen Erläuterungen wäre für die Handhabung sinnvoller gewesen, da nicht zu erwarten ist, dass der Leser stets die gesamte Kritische Ausgabe zur Verfügung hat.
Insgesamt wird dieser Briefband zusammen mit seinem Nachfolger dazu beitragen, Lasker-Schülers Exilzeit in Jerusalem differenzierter zu bewerten.