'Lieber Andreas Ich bin in Zürich. Wie geht es Dir; Frau und Kinderlein?', mit diesen harmlos klingenden Worten an den lebenslangen Freund Friedrich Andreas Meyer beginnt der vierte Briefband der Kritischen Ausgabe von Else Lasker-Schülers Werk. Doch diese Worte sind am 19.4.1933 geschrieben. Sie markieren die überstürzte Flucht der 64-Jährigen nach tätlichen Angriffen von Nationalsozialisten in die Schweiz. Es ist der Beginn ihres Lebens im Exil, das bis zu ihrem Tod 1945 in Jerusalem andauern wird.
Erst fünf Monate zuvor war Else Lasker-Schüler der Kleistpreis verliehen worden. In Berlin und Darmstadt stand ihr Schauspiel 'Arthur Aronymus und seine Väter', das sich mit den christlichen Wurzeln und den psychologischen Bedingungen des Antisemitismus auseinandersetzt, kurz vor der Uraufführung.
Doch nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten war ein Leben in Deutschland für die prominente deutsch-jüdische Autorin nicht mehr möglich. Sie findet Zuflucht in der Schweiz. Aber sie erhält keine permanente Aufenthaltsgenehmigung und die Erwerbstätigkeit als Dichterin ist ihr ausdrücklich untersagt.
Der vorliegende neunte Band der Kritischen Ausgabe von Lasker-Schülers Werk umfasst die über 700 Briefe und Postkarten der ersten Phase ihres Exils von 1933-1936. Sie sind geprägt von der materiellen und rechtlichen Unsicherheit und Gefühlen der Einsamkeit. Lasker-Schüler empfand sich als: 'eenfach met dem Bäsen utgekehrt inett Weite', wie sie in Wuppertaler Mundart am 21. Januar 1935 an Paul Zech schrieb. Eindrucksvoll dokumentieren die Briefe Lasker-Schülers Kampf, unter diesen widrigen Umständen die eigene Würde zu bewahren und sich als Dichterin zu behaupten.
Ihre Schreiben an 106 verschiedene Adressaten u.a. Martin Buber, Klaus Mann und Erich Maria Remarque, zeigen ihr Bemühen, Kontakt zu Freunden im Exil und in Deutschland zu halten. Trotz ihrer eigenen Not ('so was nie durchgemacht an materiellen Sorgen') spricht sie anderen Mut zu und sendet, so oft sie kann, Geld an ihre Nichten in Deutschland.
Die meisten und längsten Briefe gehen an Emil Raas, einen jungen Berner Rechtsanwalt, der maßgeblich am Berner Prozess gegen die sogenannten 'Protokolle der Weisen von Zion' beteiligt war. Immer wieder gelingt es ihrem 'Fürsprech', Lasker-Schülers Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern.
Trotz des Arbeitsverbots versucht Lasker-Schüler weiterhin als 'Dichterin' tätig zu sein. Sie hält Vorträge, spricht im Schweizer Rundfunk und schreibt vor allem weiter Gedichte. Diese erscheinen u.a. in der von Klaus Mann im Amsterdamer Querido Verlag herausgegebenen Zeitschrift 'Die Sammlung', darunter ihr berühmtes Exilgedicht 'Die Verscheuchte'.
Außerdem bemüht sie sich um die Uraufführung ihres Dramas 'Arthur Aronymus und seine Väter', die schließlich am 19. Dezember 1936 im Züricher Schauspielhaus mit großem Beifall stattfindet. Allerdings wird das Stück nach einer harten Kritik in der NZZ nach zwei Aufführungen abgesetzt.
Ein weiteres wichtiges Ereignis, von dem die Briefe erzählen, ist Lasker-Schülers erste Palästina-Reise im Frühjahr 1934. Die kurzen Briefe und Postkarten sind geprägt von einem Stenogrammstil, ein atemloses Notieren all der neuen Eindrücke. Gemessen an den Reisebeschwerlichkeiten der damaligen Zeit hat Lasker-Schüler im zeitgenössischen Palästina unglaublich viel gesehen: Tel-Aviv ('wie Goldgräberstadt: Mexiko und Meer'), Bethlehem, Gethsemane, Jericho, den Jordan, Haifa, Tiberias, das Tote Meer und die 'Klagemauer' in Jerusalem: 'erschütternd'. Besonders begeistert ist sie nach dem Besuch eines Kibbuz von den jüdischen Pionieren. 'Überall' sei sie gewesen und 'unaussprechlich' nennt sie wiederholt die vielen Eindrücke.
Von Anfang an besteht der Plan, über diese Reise zu schreiben. So lässt sich an Hand der Briefe auch der Entstehungsprozess ihres größten Exilwerks, des poetischen Reiseberichts 'Das Hebräerland', nachvollziehen. Sie dokumentieren sowohl den langwierigen Schreibprozess als auch die Schwierigkeiten, einen Verlag zu finden. 1937 kann 'Das Hebräerland' schließlich bei Oprecht in Zürich mit Zeichnungen Lasker-Schülers erscheinen.
Die Edition des Briefbandes ' für diesen Band ist Klaus Jürgen Skrodzki verantwortlich ' ist als vorbildlich zu loben. Sie hat sich der Mammutaufgabe gestellt, all die weitverzweigten Briefe in unzähligen Nachlässen und Archiven ausfindig zu machen und Lasker-Schülers gerade in den Briefen oft palimpsestartige Handschrift zu transkribieren. Das umfangreiche Personenregister und die sorgsamen Anmerkungen ermöglichen einen leichten Zugang.
Einziger Kritikpunkt dieser bewundernswerten Edition ist, dass die immer wieder in das Schriftbild eingefügten Zeichnungen Lasker-Schülers nur in einer Umschreibung wiedergegeben sind. So sind die engen Verflechtungen von Schreiben und Zeichnen und die darin ausgedrückten Widmungen und Ironien nur abstrakt zu rekonstruieren. Die Zeichnerin Lasker-Schüler bleibt auch im neunten Band der ansonsten so verdienstvollen Kritischen Ausgabe ihres Werkes unterrepräsentiert.
Was diese Ausgabe durch Andreas B. Kilcher, Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky, die seit 1996 im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp erscheint, ansonsten für Else Lasker-Schüler und die literaturwissenschaftliche Forschung leistet, ist nicht genug hervorzuheben. Sie macht ein Werk zugänglich, das bisher nur bruchstückhaft, ohne Beachtung der Textvarianten und oft mit Fehlern in der Transkription oder willkürlichen Kürzungen bekannt war.