Feirefiz - das Schriftstück Gottes

Feirefiz ist im Gralroman Wolframs von Eschenbach Parzivals orientalischer Halbbruder. Er ist der Sohn Belakanes und Gahmurets. Besonderes Kennzeichen: Wie eine Elster ist er schwarz-weiß gefleckt, denn er ist das Kind einer Afrikanerin und eines Franzosen. Parzival vergleicht ihn daher mit einem 'geschriben permint, swarz und blanc her und dâ' (Pz. 747,26f.; ed. Lachmann). Seinen großen Auftritt hat Feirefiz erst am Ende des Romans. Im 15. Buch kommt es zwischen ihm und Parzival zu einem heftigen Zweikampf, in dessen Verlauf die beiden Ritter erkennen, dass sie Verwandte sind. Parzival nimmt den märchenhaft reichen Halbbruder daraufhin mit an den Artushof. Dort wird er in die Tafelrunde aufgenommen. Zusammen mit Parzival, dem neuen Gralkönig, reitet er zur Gralburg. Feirefiz lässt sich taufen und heiratet die Gralträgerin Repanse de Schoye. Später geht von ihm die Christianisierung Indiens aus.
Nicole Müller beabsichtigt, mit ihrer 2008 in der Reihe 'Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft' erschienenen Dissertation eine neue Gesamtdeutung der Figur vorzulegen. Ungeachtet der geringen Präsenz des heidnischen Minneritters im Verlauf des Romans vertritt sie die These, 'dass Feirefiz von Geburt an ein unentbehrlicher Bestandteil der Handlung ist' (S. 16), und sie interessiert sich besonders für seinen schwarz-weißen Körper, den sie als 'Medium' der Konzepte 'minne' und 'strît', als 'lesbare Oberfläche' und als 'Träger eines genealogischen Sippenkonzepts' zu erweisen sucht (S. 17). Bei ihrer Analyse der spezifischen 'Körperlogik' (S. 28) der Figur gelangt sie u. a. zu folgenden Thesen:
Feirefiz gelinge im Orient im Unterschied zu seinem Vater Gahmuret die Errichtung einer dauerhaften Herrschaft. Durch ihn werde 'die gottgleiche Ritterschaft eines Gahmuret zur gottgleichen Herrschaft eines Feirefiz' (S. 48) verschoben. Feirefiz' gefleckte Haut, die auf seine beiden elterlichen Erbteile verweise, lege den Protagonisten als ein 'Mischwesen' (S. 50) an, in dem das väterliche Streben nach ritterlichem Kampf losgelöst vom christlichen Kontext fortbestehe. Sein Körper sei lesbar wie ein 'Schriftstück' (S. 61), das Gott selbst verfasst habe, um Parzivals Halbbruder zu einem 'Instrument' (S. 63) des 'Integrierens' und 'Vereinens' (S. 152) zu machen. Der Bruderkampf erst befähige Parzival zur Gralsherrschaft, indem er von Feirefiz als unbezwinglicher Ritter entthront und das dominante väterliche Erbe ('strît') in ihm zurückgedrängt werde (S. 199ff.). 'Kampf und Gespräch zusammen schaffen die Voraussetzung für die Integration Parzivals in die Gralswelt' (S. 211). Feirefiz destabilisiere durch seinen Reichtum den Artushof, er stelle Artus als dessen überlegenes Zentrum in Frage. Die Figur sei 'auf der Handlungsebene eine strukturelle Bedrohung' (S. 259). In die Gralswelt werde Feirefiz zwar durch die Krönung seines Bruders integriert, d. h., seine Sippenzugehörigkeit verschaffe ihm Hausrecht auf Munsalvaesche. Seine religiöse Integration hingegen erfolge erst durch die Taufe, die das bisher leitende Prinzip des 'strît' als Weg zu Herrschaft und Minne ablöse. Er sei insofern ein 'Schriftstück Gottes' (S. 306), als er mittels seiner von Gott gewirkten Zweifarbigkeit sowohl die Welt ritterlichen Kampfes als auch der Schrift physisch vereinige. Parzivals Kampf gegen ihn sei somit ein Kampf 'gegen das Wort, dass der Gral nicht im 'strît' zu erreichen ist' (S. 316). Der Bruderkampf werde so zum 'Erkenntnisvorgang' (S. 321).
Müller hat für diese Arbeit den Forschungspreis der Stadt Bayreuth erhalten. In einer Pressemitteilung der Universität (Nr. 105, 27.11.2006) heißt es, dass die Verfasserin 'ein neues Forschungsgebiet für die Parzival-Forschung erschlossen und nach allen Regeln der philologischen Kunst kartiert' habe. Der Rezensent staunt, denn er hat in dieser Studie weder das eine noch das andere gefunden.
Das Verdienst der Arbeit besteht zweifellos darin zu zeigen, wie Wolfram die Figur des Feirefiz einsetzt, um Raum und Zeit der Handlung zu erweitern und am Ende die Spannungsfelder Orient und Okzident, Heidentum und Christentum, Rittertum und Minne mit heilsgeschichtlicher Perspektive harmonisch zu vereinigen. Das ist allerdings ein Gemeinplatz der Wolfram-Forschung und hätte ohne die nebulöse Körper-Terminologie dieser Arbeit kürzer und verständlicher dargestellt werden können. Der etablierte Begriff 'Figur' hätte es auch getan. Stattdessen gibt es bei Müller 'Herrschaftskörper', 'Sippenkörper', 'Minnekörper', 'Königskörper', 'Gotteskörper' und sogar einen 'ewigen Sippenkörper Gottes'. Dazwischen mischt sich immer wieder der 'lîp', der auch mal eine Stadt sein kann (S. 149), und das alles soll zu einer spezifischen 'Körperlogik' des 'Parzival' beitragen. Methodische Präzision und begriffliche Schärfe sucht man hier vergebens. Die Arbeit gibt vor, sich an den mediävistischen Körper-Diskurs der letzten Jahre anzulehnen, ohne ihn auch nur ansatzweise aufzuarbeiten und methodisch reflektiert am 'Parzival' zu erproben. Die Verfasserin muss ständig behaupten, dass die Figur des Feirefiz 'hochkomplex' (S. 319) sei, um ihre äußerst abstrakte Lesart des Romans zu legitimieren. Letztlich kommt dann aber nicht mehr als eine terminologisch verklausulierte, textimmanente Lektüre des Werkes heraus.
Das Grundproblem des Ansatzes dieser Arbeit liegt in der Verkennung des Wesens fiktionaler Literatur. Müller liest den 'Parzival' wie einen philosophisch-soziologischen Traktat, dessen Argumentationsgang sich einem begriffslogischen Schematismus verdankt. Sie überzieht den Roman mit einem abstrakten terminologischen Koordinatensystem ('minne' ' 'strît' ' 'triuwe' ' 'art' ' 'got' usw.), zwischen dessen Achsen sich die Figuren angeblich wie Variablen in einem Netz aus sozialen Prämissen und formalen Handlungsgesetzen bewegen, als seien sie nicht Teil einer Erzählung, deren Verlauf nie allein durch Systemzwänge motiviert ist. Verhielte es sich so, dann gehörte der 'Parzival' kaum zur Weltliteratur, sondern wäre ein schlechter Roman. Es handelt sich aber um Dichtung. Dass die Verfasserin den Text ständig irgendetwas 'verhandeln' und 'diskutieren' sieht zeigt, dass sie verkennt, welchem Genre der 'Parzival' angehört. Eine kurze Textprobe möge zur Veranschaulichung genügen: 'Der vergängliche 'lîp', der physische Leib der Königin, ersetzt innerhalb des Belakâne-Reichs [...] stets den ewigen Gotteskörper. Das Herrschaftssystem wird folglich stets an den physischen Leib Belakânes rückgebunden. Die 'minne' steht folglich in der Funktion, einer derartigen Herrschaft einen 'strît'-fähigen Herrschaftskörper zu organisieren' (S. 98).
Manch andere Probleme wären zu nennen, z.B. dass die Verfasserin mit keinem Wort auf andere schwarz-weiß gefärbte Figuren in der mittelhochdeutschen Literatur eingeht (z. B. im 'Willehalm'), dass sie sich z. T. einer unwissenschaftlichen Ausdrucksweise befleißigt ('ich behaupte', S. 92; 'ich vermute', S. 301), dass sie die maßgeblichen Wolfram-Kommentare von Martin (1903), Heinzle (1991) und Nellmann (1994) offenbar nicht zur Kenntnis genommen hat, dass sie infolge ihres Strebens nach Originalität die existierende Forschung oft unangemessen harsch zurückweist (u.a. die Arbeiten Joachim Bumkes), dass ihre Arbeit schwer an sprachlicher Redundanz trägt, und dass es infolge der Verkennung rhetorischer und kulturhistorischer Details immer wieder zu Überinterpretationen kommt, z. B. einer Synekdoche wie 'lîp unde lant' (S. 149f.), der topischen Lichthaftigkeit schöner Frauen (S. 95ff. u.ö.), einer Allerweltsfloskel wie 'an dem got wunders wart enein' (S. 47f.) oder der liturgischen Formeln bei Feirefiz' Taufe (S. 287ff.).
Müller arbeitet in ihrem Buch viel Wichtiges und Richtiges zur Figur des Feirefiz heraus und setzt manch interessanten Akzent gegenüber der älteren Forschung. Doch ihre Argumentation wäre überzeugender ausgefallen, wenn sie darauf verzichtet hätte, auf unnötig hohem Abstraktionsniveau und mit unscharfer Begrifflichkeit um jeden Preis Feirefiz als 'Träger von Körperkonzepten' (S. 235) zu erweisen. Vielleicht hätte sie dann auch nicht aus den Augen verloren, dass es sich beim 'Parzival' um ein literarisches Kunstwerk handelt, das eigenen narrativen Gesetzen folgt und nicht allein der (Körper-)Logik verpflichtet ist.