Alltag im Mittelalter
Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander

Von einem Buch, das Alltag im Mittelalter heißt, darf man viel erwarten, vor allem, wenn es von einem renommierten Historiker stammt und Arno Borst gewidmet ist. Der große Titel weckt die Hoffnung, daß hier eine wissenschaftlich fundierte Zusammenfassung der in den letzten Jahren von allen Disziplinen der Mediävistik gesammelten Ergebnisse zur Alltags- und Mentalitätsge-schichte bzw. zur historischen Anthropologie vorgelegt wird. Doch es geht Schubert primär um etwas anderes, nämlich darum, 'die Formen und den Gestaltwandel des Umgangs von Men-schen mit der Natur und [...] von Menschen miteinander' darzustellen. 'Umwelt' und 'Kommuni-kation' im Mittelalter sind somit die eigentlichen Gegenstände des Buches, und sie bestimmen auch dessen zweigeteilten Aufbau.

Der erste Teil 'Natürliches Lebensumfeld' befaßt sich eingehend mit den natürlichen Ressour-cen und den klimatischen Gegebenheiten, die das menschliche Leben im Mittelalter, das immer auch 'ein Kampf mit der Natur' war, maßgeblich prägten. Schubert beschreibt die Auswirkungen von Frost, Schnee, Sturm und Regen auf Gesundheit und Ernährungslage sowie die Sorge um 'gute Luft' in den Städten. Er rekonstruiert ausführlich die Geschichte des Waldes und seiner Nutzung und zeigt die immense Bedeutung des Rohstoffes 'Holz' für die Entwicklung der Städte auf: 'Wer den Wald besaß, entschied über die Zukunft, besaß den Schlüssel zur wirtschaftlichen Macht'. Die Ressource 'Wasser' als Bedingung für Mobilität, Handel und Siedlungsbildung, aber auch die Gefahr, die den Menschen vor allem an der See und an großen Binnengewässern durch Sturmfluten und Hochwasser drohte, bildet einen weiteren Schwerpunkt des ersten Teils. Als dritter bestimmender Umweltfaktor wird schließlich die Tierwelt behandelt, aus der nicht nur Nahrung und Gefahr erwuchsen, sondern die mit dem menschlichen Leben zwangsläufig in so enger Verbindung stand, daß den Tieren von den Gelehrten sowohl eine heilsgeschichtliche Zeichenhaftigkeit (vgl. Physiologus) als auch eine Seele zugesprochen wurde.

In der Diskussion all dieser Umweltfaktoren geht es Schubert stets darum, exemplarisch aufzu-zeigen, daß der 'Dialog' des Menschen mit der Natur, d. h. das mühsame Ringen um Nahrung und Sicherheit, generell der eigentliche Motor historisch-zivilisatorischen Wandels ist. Diesen ersten, mit großer Sach- und Quellenkenntnis geschriebenen Teil des Buches liest man daher durchaus mit Faszination und Gewinn, zumal es im Hintergrund der lesefreundlichen Darstellung immer auch um die Revision moderner Mittelalter-Klischees geht (z. B. von der 'ursprünglichen' Waldwildnis, vom Fehlen eines Sinns für landschaftliche Schönheit, von der alles durchdringen-den Kirchlichkeit, der 'Einheitlichkeit' der Epoche, der fehlenden Kinderliebe usw.).

Gegenüber diesem ersten Teil fällt der zweite, 'Menschliches Miteinander' betitelte in Sprache (z. T. Stenogramm-Stil) und Gehalt allerdings ab. Schubert thematisiert Umgangsformen (Höf-lichkeit, Beschimpfungen, Flüche), Freundschaft und Nachbarschaft, Ehe, Liebe und Sexualität. Hier wird viel Altbekanntes referiert, was andernorts bereits mit größerer analytischer Tiefe dar-gestellt worden ist. Plattitüden wie 'das Mittelalter ist eine harte Welt' oder 'das Mittelalter war keineswegs vertrauensselig' konterkarieren stellenweise geradezu das sonst überall spürbare Bestreben des Verfassers, die Epoche differenziert zu beschreiben und überkommene historio-graphische Dogmen aufzubrechen. Daß als Quellen für den zweiten Teil insbesondere mittelal-terliche Sprichwörter gewählt werden, ist problematisch, denn inwieweit sie einen generalisierba-ren Konsens der Zeitgenossen über Welt- und Lebensphänomene abbilden bzw. ob sie auf-grund ihrer sprachlichen und semantischen Konstruiertheit, ihres gewissermaßen 'literarischen' Charakters, überhaupt Rückschlüsse auf die historische Realität erlauben, ist zweifelhaft. Ein methodisches Problem stellt im zweiten Teil zusätzlich die z. T. kühne Verflechtung früh- und spätmittelalterlicher Belege für ein und dieselbe These dar. Die Argumentation bewegt sich im-merhin in einem Zeitraum von Hunderten von Jahren. Überhaupt ist das Spätmittelalter ' ange-sichts des Titels ' unangemessen überrepräsentiert, auch in den 18 Abbildungen. Nach dem Nutzen dreiseitiger Kurzkapitel wie jenes über 'Mißtrauen und Vertrauen' darf gefragt werden.

Wenngleich Schubert mit Alltag im Mittelalter eine gut lesbare Einführung in existentielle Bedin-gungen mittelalterlichen Lebens geschrieben hat, kann doch bei seinem Buch nicht von einer bündelnden Gesamtdarstellung der mittelalterlichen Alltagsgeschichte, wie sie der Titel erwarten läßt, gesprochen werden, noch weniger ' trotz zahlreicher Anstöße zur Korrektur gängiger For-schungsmeinungen ' von einer innovativen Arbeit. Der Fachmann erfährt wenig Neues, der Text reißt mehr an, als er vertieft, und die strukturierenden Hauptthemen des Buches, 'Umwelt' und 'Kommunikation' stehen trotz des Versuchs der Kohärenzstiftung in Einleitung und Schluß relativ unverbunden nebeneinander. Viele andere wichtige Aspekte, die auch zu einer Alltags-geschichte gehört hätten, z. B. Geburt und Tod, Arbeit, Ausbildung und Erziehung, Ernährung usw. bleiben weitgehend außen vor.

Schubert hat ein lesenswertes Buch für Einsteiger in die mittelalterliche Umwelt- und Sozialge-schichte geschrieben. Die Menge und Vielzahl der ausgewerteten Quellen ist imposant. Die dringend notwendige 'Bilanz' der seit Jahren reichen Ertrag bringenden historischen Anthropo-logie ist dieses Buch allerdings noch nicht. Diesen Anspruch erhebt es freilich auch nicht. Viel-mehr liegt das Verdienst dieses Buches wohl vor allem darin, daß es das in Fachkreisen längst etablierte Wissen darum, daß die 'Mittelalter' genannte Epoche zwischen 500 und 1500 weniger statisch und homogen war, als Teile der Geschichtswissenschaft sie noch bis vor kurzem kon-struiert haben, für ein breiteres Publikum in einer leicht faßlichen, populärwissenschaftlichen Form aufbereitet.