anima und sêle
Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter

Aus Anlass einer 'Das Andere des Körpers. Darstellungen und Systematisierungen von 'Seele' im 12./13. Jahrhundert' überschriebenen Tagung, die im Dezember 2003 im Kloster Irsee stattfand, sind 15 Beiträge verfasst worden, die zu einem interdisziplinären Gedankenaustausch über 'anima und sêle im Mittelalter' anregen wollen. Die Herausgeberinnen heben in ihrer Einleitung hervor, dass es im 12. und 13. Jahrhundert gerade die Frage nach der menschlichen Seele sei, nämlich nach ihrer Natur, ihrer Entstehung und ihrer Substanz sowie nach ihrem Verhältnis zum sterblichen Körper und zu Gott, in der sich wesentliche Merkmale dieser faszinierenden Umbruchszeit bündeln. Die Frage berührt Grundlagen der Theologie und Philosophie ebenso wie Kunst und Medizin, Kosmologie und Musik, jedoch jetzt bereits in einer jeweils eigenen, fachspezifischen Perspektive. Daher ist der Wunsch nach einer Sichtung der gemeinsamen Grundlagen der mittelalterlichen Auseinandersetzung mit der Seele nur allzu berechtigt, ebenso der damit einhergehende Versuch, die fachspezifisch unterschiedlichen Zugänge deutlicher, als bisher geschehen, zu kennzeichnen. Die Einleitung skizziert deshalb zunächst die wichtigsten theologischen und philosophischen Grundpositionen, auf die im 12. und 13. Jahrhundert zurückgegriffen wurden. Es wird deutlich, dass sich solche 'Grundpositionen' im engeren Sinne allenfalls für Theologie und Philosophie bestimmen lassen. 'Die Art, wie beispielsweise die Literatur oder die darstellende Kunst in ihren jeweiligen Konzeptionen von Seele verfahren, ist weniger systematisch und bildet nicht in gleichem Maße Positionen aus, die sich benennen und skizzieren ließen' (S. X). Durch die konkurrierenden platonischen, aristotelischen und augustinischen seelentheoretischen Lehrmeinungen ist jedoch zumindest ein Rahmen gesteckt, in dem sich neue Konzeptionen entwickeln und entfalten können. Der Sammelband bietet Überlegungen zu folgenden Aspekten: zur theoretischen Systematisierung von Seele (in Theologie, Philosophie und Medizin); zur Seele im Kontext der Schöpfung (zur Beziehung zwischen der Welt und der menschlichen Seele, die im Verhältnis zu der sie umgebenden Schöpfung, dem Makrokosmos, als Mikrokosmos begriffen wird).

Das führt zu einer genaueren Differenzierung, so als: 'Architekturen von 'Innen' und 'Außen'', mit Beiträgen zum 'Homo exterior und homo interior in monastischen und laikalen Erziehungsschriften', über 'Orte der inneren Schau in mittelalterlichen Visionsdarstellungen', allegorischen Konzepten 'des inneren Menschen in mittelalterlichen Architekturbeschreibungen' und die 'Architektur des Innen' in der Episode von Didos Selbstmord in Heinrichs von Veldeke 'Eneas'.

Ansätze zu einer Art 'anthropologischen Texttheorie' werden geboten unter 'Anthropomorphisierung der Schrift: Die Seele des Textes'. Sie eröffnen hoch interessante Bezüge sowohl zur augustinischen Sprachphilosophie als auch zur modernen Rezeptionsästhetik.

Zum Schluss stehen dann wieder ' wie man es in einem germanistischen Sammelband auch erwarten darf ' die Texte im Vordergrund. Unter dem Stichwort 'Die Seele im Paradigma von Affekt und Emotion'; schließlich als 'Literarische Konzeptualisierungen von Seele'.

Der Sammelband umfasst verständlicherweise nicht alle Bereiche, in denen die Seele im Mittelalter thematisiert wird. Vielmehr zeigt er an gut ausgewählten Beispielen, wie die intellektuellen Positionen zur Seele in und zwischen den etablierten Diskursen verhandelt wurden oder verhandelt werden. Die verschiedenen Beiträge liest man mit Gewinn, nicht zuletzt Katharina Philipowskis Überlegungen zur 'literarischen Vergegenständlichung der unkörperlichen Seele zum dinglichen, fleischlichen Herz am Beispiel von Hartmanns von Aue 'Klage'': 'Dadurch, dass Körper und Seele um das Herz bereichert und ergänzt werden, wird der Dualismus zwischen ihnen durch verschiedene, sich gegenseitig überlagernde Differenzierungen aufgehoben' (S. XXXV). Wenn es um das mittelalterliche Herz geht, könnten mit Gewinn allerdings nicht nur moderne 'Begriffsdatenbanken' (mit unklarem Begriffs-Begriff), sondern auch Xenja von Ertzdorffs 'Studien zum Begriff des Herzens und seiner Verwendung als Aussagemotiv in der höfischen Liebeslyrik' von 1958 herangezogen werden. Von einem wirklich grundlegenden Sammelband würde man sich darüber hinaus wünschen, dass gerade auch für die Bereiche jenseits von Theologie und Philosophie, in denen die Orientierung im 12. und 13. Jahrhundert besonders schwierig war, ein Zugang über die Sprache versucht würde. Dies geschieht aber für das Lateinische und Mittelhochdeutsche allenfalls punktuell und ansatzweise und es geschieht auch nur für das jeweilige 'kommunikative Gedächtnis' der Texte, nicht für das 'kulturelle Gedächtnis' der genannten Sprachen. Auch wenn die Marginalisierung der (historischen) Sprachwissenschaft zu einem nicht geringen Anteil von ihr selbst verschuldet ist, so bleibt sie doch dennoch ein Missgeschick ' nicht nur der Germanistik. Zu verweisen wären hier abschließend auf Heiner Eichner, Indogermanische Seelenbegriffe, in: Johann Figl ' Hans Dieter Klein (Hg.), Der Begriff der Seele in der Religionswissenschaft, Würzburg 2002, S. 131-141; Beatrice La Farge, 'Leben' und 'Seele' in den altgermanischen Sprachen. Studien zum Einfluss christlich-lateinischer Vorstellungen auf die Volkssprachen, Heidelberg 1991.