Die Insel der Kannibalen
Stalins vergessener Gulag

Unter dem etwas reißerischen Titel 'Insel der Kannibalen' hat Nicolas Werth ein ansonsten stark in wissenschaftlicher Diktion gehaltenes Werk über eines der erschreckendsten Kapitel stalinistischer Gewaltverbrechen vorgelegt. Werth lehrt Geschichte am renommierten französischen Institut für Zeitgeschichte in Paris und ist einer der bedeutendsten Experten bei der Erforschung des Stalinismus. Die vorliegende Studie untersucht die Deportation von etwa 6.100 Inhaftierten auf die Insel Nasino. Die menschenleere Insel befand sich im Fluss Ob in einem wenig besiedelten Landstrich Sibiriens.
Die Deportation erfolgte im Anschluss an die seit 1930 durchgeführte massenhafte Inhaftierung von Großbauern (Kulaken), die zu einer Überfüllung der Gefängnisse führte. Im Frühjahr 1933 entwickelte die Geheimpolizei daraufhin einen Plan, der die Ansiedlung von Inhaftierten als 'Arbeitssiedler' in den entlegenen Peripherien der Sowjetunion vorsah. Nach Stalins Zustimmung begann man mit der sofortigen Durchführung des Plans. Vielfach wurden dabei kaum logistische Vorkehrungen für die Deportation großer Menschenmassen in bis dato wenig besiedelte Gebiete getroffen. Für die Insel Nasino beschloss die Verwaltung, dass die Deportierten sich selbst versorgen sollten, was aufgrund der dortigen Verhältnisse zu einem Massensterben durch Vernachlässigung führte. Im Kampf ums Überleben versuchten sich die Häftlinge schließlich auch durch Kannibalismus zu retten. Fünf Monate nach der Deportation waren zwei Drittel der Inhaftierten gestorben. Die 'Arbeitssiedlung' wurde aufgelöst und für die Versäumnisse der zentralen Stellen wurden lokale Funktionsträger zur Rechenschaft gezogen.
Das Buch von Werth gibt ein eindrückliches Beispiel von der Gewaltbereitschaft und Verantwortungslosigkeit von sowjetischer Geheimpolizei und Bürokratie. Insbesondere die Sprache der Dokumente zeigt die indifferente Mitleidlosigkeit, mit der die Machthaber agierten. Den Tod der Inhaftierten wollten sie zwar nicht generell herbeiführen, aber sie nahmen ihn doch oft billigend in Kauf. Auch wenn die Geschichte von Nasino ein Extrembeispiel stalinistischer Politik darstellt, vermag sie doch Grundsätzliches über den Charakter des Systems aufzuzeigen. Das Buch ist eine sowohl beeindruckende wie lesenswerte Lektüre, die ohne Einschränkung empfohlen werden kann.