Zwangsarbeit im stalinistischen Lagersystem
Eine Untersuchung der Methoden, Strategien und Ziele ihrer Ausnutzung am Beispiel Norilsk, 1935-1953

Bei dieser Arbeit von Simon Ertz handelt es sich um die erweiterte und überarbeitete Fassung einer Magisterarbeit, die an der FU Berlin eingereicht wurde. Die Qualität der Arbeit liegt jedoch weit über dem üblichen Niveau einer Magisterarbeit und ihre Publikation kann daher nur begrüßt werden. Ertz untersucht das System der sowjetischen Zwangsarbeit am Beispiel des Aufbaus und des Betriebs des Buntmetallkombinats Norilsk. Norilsk liegt im nördlichen Teil Ostsibiriens und zeichnet sich durch extrem kalte Winter aus, die von starken, eisigen Winden begleitet werden. In dieser Region entdeckten Expeditionen Anfang der 1930er Jahre eines der reichsten Buntmetallvorkommen der Erde (insbesondere an Nickel). Wie so häufig in der sowjetischen Geschichte wurde der beschlossene Aufbau eines Erzabbaubetriebes in einem Gebiet mit geringer Bevölkerungsdichte vor allem durch den Einsatz von Zwangsarbeitern betrieben. Nach der Errichtung der ersten Produktionsbetriebe kamen zwar zunehmend auch zivile Arbeitskräfte, angelockt durch Lohnzuschläge, in die Region, doch bis weit in die fünfziger Jahre blieb Zwangsarbeit für den Betrieb unersetzlich. Im Gegensatz zu anderen sowjetischen Zwangsarbeitsprojekten erwies sich Norilsk jedoch als ökonomischer Erfolg. Die heute dort agierende Aktiengesellschaft Norilsk Nikel gehört inzwischen zu den Weltmarktführern in der Buntmetallerzeugung.
Die große Stärke des vorliegenden Buches ist die detaillierte Analyse der Zwangsarbeit sowie der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Inhaftierten. Insbesondere zeigt Ertz, welch eminent bedeutsame Quelle die Sterblichkeitsregister der staatlichen Administration bilden, die von der bisherigen Forschung häufig fälschlicherweise als wenig ergiebig abgetan wurden. Ertz kann anhand ihrer Analyse nunmehr nachweisen, welchen Einfluss z.B. Veränderungen der Nahrungsrationen auf die Überlebenschancen hatten. Des Weiteren zeigt er anhand von Verwaltungsakten, welche Auswirkungen verschiedene Prämiensysteme auf die Arbeitsproduktivität der Zwangsarbeiter hatten. Aufgrund dieser detaillierten Auswertung der Akten geht Ertz' Studie bei der Frage der Bewertung der Zwangsarbeit qualitativ zum Teil weit über die bisherige Standardliteratur zum Gulag-System hinaus. Allerdings ist die größte Stärke des Buches zugleich dessen größte Schwäche. Die Detailverliebtheit des Autors geht speziell in den Fußnoten mitunter deutlich weit über das Notwendige hinaus und auch im Text findet sich manche den Lesefluss erschwerende Schleife. Deswegen ist Ertz' Studie sicherlich kein ideales Buch für den interessierten Laien; für die Zwangsarbeitsforschung überwiegen die Stärken des Buches seine Schwächen jedoch bei weitem.