Freud wartet auf das Wort

Goldschmidts Buch enthält sehr viel mehr als die durch den Titel nahegelegte Auseinandersetzung mit dem Sprachgebrauch S. Freuds. Zwar stellt Goldschmidt auch die besondere Qualität der Freudschen Fachprosa heraus, die sich durch ihre leichte Zugänglichkeit auszeichne. Die Konfrontation mit französischen Übersetzungen Freuds führt ihn jedoch zu einer Betrachtung der Besonderheiten der deutschen Sprache, die sprachidealistisch gedeutet werden: 'Die Spiele der Sprache sind in jeder Sprache anders.' (S. 35). Freuds Schreiben zeichne sich dadurch aus, dass er die Besonderheiten der deutschen Wortbildung und Syntax zu nutzen verstehe, um seiner Zielstellung gerecht zu werden, das jeweils Verdrängte, eine alle Sprachen verbindende Grundsprache, mit den Mitteln des Deutschen zum Sprechen zu bringen. Goldschmidt geht sogar so weit zu behaupten, Freud hätte die Psychoanalyse anders begründet, wenn er französisch geschrieben hätte (S. 113).
Allerdings steht insgesamt nun allerdings keine spezielle Freudinterpretation, sondern die Frage nach den Spezifika der deutschen Sprache im Vordergrund. Die Antworten darauf sind anregend, manchmal provozierend und manchmal sogar irritierend. Goldschmidt vertritt ' und belegt dies durch eine Vielzahl sog. 'gestischer Komposita' (z.B. 'Zersetzung', 'Unterwerfung', 'Gründlichkeit') ' zum einen die These, dass das Deutsche im Verhältnis zum Französischen eine durchsichtige Sprache sei, die das, wovon sie spreche, fast körperlich spürbar mache, in einem konkreten Raum verorte und so einen 'Sprachkerker' (S. 121) bilde. Zum anderen zeigt er, dass die Sätze im Deutschen eine regressive Struktur durch den 'Verbverzögerungseffekt' hätten. Besonders die Betrachtung der Wortbildung führt Goldschmidt zur Annahme eines volkstümlichen, gar infantilen Charakters der deutschen Sprache. Man mag ihm an dieser Stelle zur Ehrenrettung des Deutschen entgegenhalten, dass das Deutsche häufig als eine 'Mischsprache' bezeichnet wird, deren Produktivität sich eben nicht nur, wie von Goldschmidt behauptet, aus dem Erbwortschatz speise (vgl. S. 39). Inspirierend ist allerdings der Gedanke Goldschmidts, dass die Räumlichkeit des Deutschen zu einer sprachpuristischen Auffassung verleite, nach der es keinen Abstand zwischen Ausdruck und Ausgedrücktem, Referenz und Sinn gebe. Dies kann zu einem Missbrauch führen, den Goldschmidt sowohl dort gegeben sieht, wo die Durchsichtigkeit sich zu einem Rein- und Echtheitsgebot verengt, als auch dort, wo diese dazu einlädt, sich 'Wortungeheuer' 'zurechtzuzimmern' (S. 66) und die Möglichkeiten des Deutschen als Einfallstor für syntaktische Weitschweifigkeit zu nutzen. Gelten Goldschmidt Freud, Heine oder Kafka Goldschmidt als Repräsentanten eines ebenso lebendigen wie klaren Schreibens, das internationale Anschlussfähigkeit gewährleistet, sind beispielsweise Philosophen des späten 19. Jahrhunderts, besonders Heidegger oder Husserl (S. 66f., S. 127f.), Repräsentanten eines 'entuniversalisierten', sprachlich homogenen Schreibens, das auch weite Teile der wilhelminischen Intelligenz prägen soll. Das Zusammenwirken politischer und sprachlicher Infantilisierung zeige sich im gesamten 19. Jahrhundert und erreicht nach Goldschmidt im Nationalsozialismus seinen Höhepunkt.
In vielerlei Hinsicht verdienen es Goldschmidts Überlegungen, weiter gedacht zu werden. Den Gedanken einer europäischen deutschen Sprache, die sich im 20. Jh. nicht hat behaupten können, möchte ich dabei besonders hervorheben. Eine besondere Herausforderung dürfte es bedeuten, die damit verbundenen sprachlichen Umbrüche philologisch genauer zu dokumentieren. Und eine weitere Herausforderung dürfte es bedeuten, darüber nachzudenken, inwieweit Freud heute noch ein Stilvorbild sein könnte: Vorbild für eine im weitesten Sinne selbstbewusste, jedoch auch für eine international anschlussfähige deutsche Sprache.