Krankheit verstehen
Interdisziplinäre Beiträge zur Sprache in Krankheitsdarstellungen

Der Sammelband umfasst 11 Beiträge, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven ' v.a. linguistisch, medizinsoziologisch und psychotherapeutisch ' damit befassen, welche sprachlichen Verfahren zur Darstellung und Vermittlung von Krankheiten gewählt werden. Es wird gezeigt, daß diese sowohl wesentlicher Teil der Selbstbeschreibung der Patienten und eine Hilfe bei der Formulierung von nahezu Unsagbarem sind (z.B. bei epileptischen Anfällen) als auch der Vermittlung von Krankheitsbildern dienen. Dabei werden unterschiedliche Kommunikationsbereiche anhand von z.T. umfangreichen Korpora behandelt. Zu den Bereichen zählen die Arzt-Patienten-Kommunikation, die Experten-Laien-Kommunikation, die mediale Inszenierung von Krankheitsdarstellungen in der Massenkommunikation (z.B. Ratgebersendungen) sowie auch die schriftliche Bearbeitung von Krankheitsfällen.
Trotz der interdisziplinären Orientierung bilden sprachliche Veranschaulichungsverfahren für die Konstitution von Krankheitsbildern den thematischen Schwerpunkt. In dieser Fokussierung, insbesondere hinsichtlich der Rolle von Metaphern, liegt eine Stärke des Sammelbandes, der sich durch thematische Kohärenz und durch einen ähnlichen Bezugsrahmen (Arbeit mit authentischen Daten, hauptsächlich Transkripte mündlicher Interaktionen) und eine ähnliche Annäherung an das Material: akribische konversationsanalytische und textlinguistische Analyse auszeichnet. Die einzelnen Aufsätze bieten jedoch nicht nur Einblick in Veranschaulichungsverfahren (z.B. auch Beispielerzählungen), sondern zeigen auch ein breites Funktionsspektrum beispielsweise metaphorischer Rede. Neben dem intensiven Gebrauch von Metaphernsystemen in Vermittlungsvarietäten einschließlich einer emotionalisierenden Darstellung in den Medien (Brünner/Gülich zu Herz-Kreislauferkrankungen, Lalouschek zur medialen Inszenierung des Chronischen Erschöpfungssyndroms) wird besonders die interaktive Bedeutung von Metaphern im Gesprächsprozeß hervorgehoben (Brünner/Gülich zur Epilepsie; Furchner zu Bewußtseinstrübungen; Konitzer et al. zum homöopathischen Erkenntnisgewinn). Besonders herausgestellt wird, daß Metaphern auch eine Indikatorfunktion für die Beziehungsgestaltung in der institutionalisierten Arzt-Patienten-Kommunikation besitzen (z.B. Buchholz zur Psychotherapie). Welche Veranschaulichungsverfahren Patienten bei Krankheitsdarstellungen wählen, kann in zwei Hinsichten eine besondere (differential)diagnostische Relevanz haben: Zum einen ist oft eine Korrelation zwischen Metapherngebrauch und der Unterscheidung von Krankheitsbildern gegeben, zum anderen ist beispielsweise die Fixierung auf bestimmte Metaphern gerade in der Psychotherapie Indiz dafür, in welchem Krankheitsstadium sich ein Patient befindet (Surmann zur Epilepsiebeschreibung, Kütemeyer zu Schmerzbeschreibungen, Schwemm zur Körpertherapie). Veranschaulichungsverfahren können, je nach Einbettung, das Verständnis auch erschweren, dramatische Überspitzungen sind im Kontext medialer Information teilweise kontraproduktiv, wenn Sachinformationen von ihnen überlagert werden. Eine lose Anbindung an den skizzierten Bezugsrahmen haben die Beiträge von Stollberg zum Vordringen asiatischer Medizintraditionen, von Tsapos zur Formulierung von Krankenakten aus Bethel aus dem Zeitraum von 1898-1945 und von Herrman zu literarischen Traditionen in der Darstellung von Tod und Krankheit von Montaigne bis Brodky.
Der Sammelband dokumentiert, welche Möglichkeiten interdisziplinäre Zusammenarbeit besitzt, da sich Wissensbestände hier nicht heterogen präsentieren, sondern eine interessante Perspektivendivergenz vorliegt. Sieht man diesen Sammelband im Zusammenspiel mit in den letzten Jahren publizierten Beiträgen zur Bedeutung von Metaphern in den Wissenschaften, so wird hier noch einmal deutlich, dass Metaphern nicht rhetorischer Schmuck, sondern für die Konstitution unserer Lebenswelt maßgeblich sind. Da Veranschaulichungsverfahren große Tragweite für das Verstehen von Krankheiten und ihre Behandlung besitzen, können die Beiträge auch als überzeugendes Plädoyer dafür verstanden werden, die interaktive Dimension und das partikulare Erlebniswissen gerade bei chronisch Kranken stark zu berücksichtigen.