Siegfried Tornow entfaltet auf 675 Buchseiten ein beispielloses Panorama der Kulturgeschichte des östlichen Europas. Wer beispielsweise gleichermaßen etwas über die Reformation, die Literaturgeschichte oder die Entwicklung der verschiedenen Schriftsprachen in dieser Region erfahren möchte, ist nun nicht mehr länger auf die verschiedenen Nationalgeschichten und unterschiedlichste Spezialliteratur angewiesen, sondern kann jetzt getrost bei Tornow nachschlagen. Tornows Osteuropa erstreckt sich in zeitlicher Hinsicht von der Spätantike bis zum Jahrhundert der Nationalstaaten, in räumlicher Hinsicht von Byzanz, Bulgarien und Rußland bis nach Karantanien, Tschechien und Polen. Für das abschließende 19. Jahrhundert kommen damit im Tornowschen 'Südlichen Ostmitteleuropa' Kroatisch, Ungarisch, Burgenlandkroatisch, Ostslovakisch, Übermurslovenisch, Russinisch, Banatbulgarisch, Slovakisch, Slovenisch, Čechisch und Sorbisch ins Blickfeld, im 'Nördlichen Ostmitteleuropa' Polnisch, Kaschubisch, Jiddisch, Litauisch, Lettisch, Estnisch, im 'Nordosteuropa' Russisch, Ukrainisch, Weißrussisch, Tatarisch, Čuva¨isch, Mordvinisch, Čeremissisch, Votjakisch und Syrjänisch, sowie in 'Südosteuropa' Rumänisch, Serbisch, Bosnisch, Bulgarisch, Albanisch, Griechisch Djudezmo und Osmanisch.
An dieser Liste ist einiges bemerkenswert: Sie enthält eine Reihe von Sprachbezeichnungen, die auch gebildeten 'Westeuropäern' nicht geläufig sein dürften. Und dies, obwohl Tornow nur solche Sprachen verfolgen will, die es zu einer eigenen Literatursprache gebracht haben. Hier besteht also ein tatsächlicher Informations- und Bildungsbedarf. Die Liste enthält darüber hinaus Sprachbezeichnungen, die in der ' durch die politische Geschichte der Neuzeit verbogenen ' Wahrnehmung vieler 'Westeuropäer' hier nicht unbedingt zu erwarten gewesen wären. So etwa Griechisch und Osmanisch. Damit konturiert Tornow sein Osteuropa etwas anders, als dies beispielsweise durch das neu gegründete 'Gießener Zentrum östliches Europa' geschieht, dessen Profil sich sehr weit nach Osten ausdehnt und auch die asiatischen Länder der ehemaligen Sovjetunion berücksichtigt. Tornow definiert 'seinen' Raum so: 'Ich verstehe unter Osteuropa den Teil Europas (nicht auch Asiens) östlich der sog. Elbgrenze. Diese begann in Holstein, wo sie als 'Limes Saxoniae' zwischen Kiel und Boizenburg errichtet wurde, verlief dann elbaufwärts bis zur Einmündung der Saale, diese aufwärts bis zu ihrer Quelle, den Böhmerwald und die mährische Südgrenze entlang, stieß bei Tulln an die Donau, umschloss ganz Kärnten und endete im fränkischen Istrien an der Adria. Sie bildete beim Tode Karls des Großen die Ostgrenze des Frankenreichs und war ' bis auf den Südabschnitt ' identisch sowohl mit der deutsch-slavischen Siedlungsgrenze als auch mit der christlich-heidnischen Kulturgrenze' (S.13). Leider wird die Ostgrenze des Tornowschen Osteuropas nicht ebenso detailliert beschrieben, so vermißt man hier zumindest Armenien, Georgien und Azerbaidschan. Nicht nur der europäische Fußballverband verfährt da heute anders. Erst die Zukunft wird zeigen, welches der konkurrierenden Modelle langfristig eine größere Anziehungskraft besitzt. Das von der jüngeren politischen Geschichte inspirierte Gießener Modell oder Tornows Modell einer 'Text- und Sozialgeschichte'.
Mit diesem Stichwort gelangt man schließlich zum eigentlich bemerkenswerten Aspekt der zitierten Liste. Nicht von Ländern und Regionen ist hier die Rede, sondern von Sprachen. Die Geschichte des östlichen Europas ' zumindest der Neuzeit, denn die das Mittelalter betreffenden Kapitel sind mit Volks-, und noch nicht mit Sprachbezeichnungen überschrieben ' wird so zu einer Geschichte von Texten und Textsorten, der jeweils kurze einleitende Kapitel über die politische Geschichte, die Kirchen- und die Bildungsgeschichte vorangestellt sind.
Dies alles verdient höchsten Respekt und grüßte Bewunderung. Es ist nicht recht vorstellbar, daß irgendein Mensch dieses Buch liest, ohne an vielen Stellen davon zu profitieren. Es ist aber auch schlechterdings kaum vorstellbar, daß Tornow alle diese Gebiete selbst mit gleichmäßiger Intensität aufarbeiten konnte. So sind die Aussagen etwa über die indoeuropäischen Sprachen auf dem Wissensstand der 60er Jahre. Neue Literatur fehlt hier völlig; auch insgesamt ist neuere sprachwissenschaftliche Literatur ' dafür, daß Tornow einen sprachzentrierten Zugriff gewählt hat ' nur kursorisch erfaßt. Besonders problematisch scheint mir darüber hinaus zu sein, daß 'Deutsch' in Tornows Liste nicht enthalten ist. Was ist Osteuropa ohne seine Lingua franca? Oder war/ist Deutsch die Lingua Franca Mitteleuropas? Oder des östlichen Europas? Was also ist nun Osteuropa? Hier macht es sich Tornow wohl doch ein bißchen zu leicht, wenn er in Verbindung mit der von Kiel bis Istrien gespannten Linie die Leibeigenschaft zum alleinigen Maßstab nimmt. Immerhin, die oben skizzierte Ostgrenze des Frankenreiches erscheint am Ausgang des Mittelalters erneut als Westgrenze von Leibeigenschaft und Erbuntertänigkeit. Östlich der Elbe wird dingliche Unfreiheit zur persönlichen ausgeweitet und führt zur Leibeigenschaft. So wird für Tornow Ostmitteleuropa zu einem Teil Osteuropas. Wie alle monokausalen Erklärungsversuche stößt auch er rasch an seine Grenzen. Gilt das Merkmal für das Osmanische Reich? Die Herausstellung der Leibeigenschaft läßt sich auch nur schwer mit Tornows sprach- und textorientiertem Zugriff vereinbaren, um so mehr, da dann das 'östliche Deutsch' unbedingt Bestandteil des Bandes hätte sein müssen.
Diese konzeptuelle Schwäche wird allerdings dadurch etwas abgemildert, daß so ' vom Deutschen einmal abgesehen ' zumindest im Westen, Süden und Norden des fraglichen Raumes ein denkbar weiter Rahmen gesetzt ist.
Soll man bei Tornow nachschlagen? Unbedingt! Sein Handbuch eröffnet erhellende Zusammenhänge ' etwa zur Geschichte des Judezmo oder Spaniolisch, das Tornow Djudezmo nennt ' und viele weitere, die es verschmerzen lassen, daß nicht alle Daten auf dem neuesten Stand sein können. Für ein Nachschlagewerk wäre ein Sachregister allerdings unabdingbar gewesen. Wie beurteilt Tornow den Ende des 13. Jahrhunderts auf der Krim entstanden Codex Cumanicus mit seinen dem Kasantatarischen nahestehenden kumanischen, lateinischen und deutschsprachigen Einträgen, wie das vermeintlich alte russische Igorlied? Dies ist ohne Sachregister nur mühsam zu ermitteln.
Als Nachschlagewerk ist 'Tornows Osteuropa' ein großer Wurf, und das gediegene Transkriptionssystem erfreut das sprachwissenschaftlich geschulte Auge. Über die Frage allerdings, was denn Osteuropa nun eigentlich genau ist, darf weiter gestritten werden.