Philosophie nach Auschwitz
Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft

Die vorliegende analytische Studie von Zimmermann, Professor für Philosophie in Konstanz, unternimmt keine historische Aufarbeitung philosophischer Reaktionen auf den Völkermord an den europäischen Juden, sondern ist bemüht, eine systematische Neubestimmung philosophischer Rationalität nach dem 'Zivilisationsbruch' (Dan Diner) Auschwitz zu formulieren. In diversen Untersuchungen einzelner Argumentationstypen werden ethische Konzepte auf ihre 'moralische Zeitgenossenschaft' hin überprüft, um einen 'Beitrag zur Kultivierung' 'moralischer und politischer Urteilskraft' (S. 250) zu leisten.
Zunächst wird der besondere Status des Holocausts als 'präzedenzlose Katastrophe' (Yehuda Bauer) gefaßt, womit weniger die Brutalität und Organisation des Verbrechens bezeichnet wird, als vielmehr die Motivation der Täter. Sie wird im weiteren Verlauf der Schrift als 'nazistische Transformationsmoral' (S. 38) gekennzeichnet, die eine völlige Umwälzung bisheriger Moralvorstellungen zum Ziel hatte: 'Hitler war sich [...] des historischen Anfangs der abendländischen Moral im Judentum bewusst. Sein 'Angriff auf die Heiligkeit des Lebens' resultierte aus seiner Überzeugung, dass anders das politische Leitziel der völkischen Lebensraumgewinnung, die auf eine 'Ausmordung fremder Gebiete' hinauslief, nicht umsetzbar war, weil dies [...] eine Transformation moralisch-motivationaler Grundlagen verlangte. Daher bedeutete die 'ungeheure Umwälzung der Moralbegriffe', von der Hitler spricht, zugleich ein revolutionäres Erziehungsprogramm, dessen Vorhut die Totenkopfverbände der SS zu bilden hatten, die als Avantgarde für die 'Austreibung des Gewissens und des fünften Gebots' standen.' (S. 37) Jene 'nazistische Transformationsmoral' wird im Anschluß an Kants Vorstellung vom 'radikal Bösen' im Menschen verstanden, das ganz bewußt das Sittengesetz nicht nur mißachtet, sondern es selbst auch abzuschaffen trachtet, und sich nicht von der zwingenden Vernunfteinsicht ' von der Kant ausgegangen ist ' zum Guten bekehren läßt.
Der beabsichtigte Ausbruch der Nazis aus einer universalistischen Moral wird gerade hinsichtlich ihres eliminativen Rassismus, ihres 'antijüdischen Gattungsnegativismus' (S. 39) als Gattungsbruch interpretiert, der kritisch gegenüber dem moralphilosophischen Postulat eines universellen Gattungsbegriffs auch als 'Gattungsversagen' (S. 40) von Zimmermann aufgefaßt wird. Dies führt nicht einfach zu einer generellen Skepsis gegenüber allen formalistischen Achtungsprinzipien traditioneller Spielart. Zimmermann möchte auch die als 'partikularistisch-nationalistisch' gekennzeichnete Moral der Nationalsozialisten nicht bloß als indiskutabel disqualifizieren, sondern sie zunächst als Moralauffassung seriös besprechen, um sie in einem zweiten Schritt argumentativ zu erschüttern: 'Im Rahmen unseres analytisch-hermeneutischen Beschreibungsrahmens haben wir insoweit zwei Schritte vollzogen: erstens die negatorische Abgrenzung zwischen universalistischer Moral und nazistischer Transformationsmoral durch das Werturteil, dass letztere als unmoralisch oder pseudomoralisch zu qualifizieren ist; zweitens die kritische Überleitung der nazistischen Transformationsmoral in eine partikularistisch-nationalistische Gemeinschaftsmoral, die bedeutet, letzte als eine Moralauffassung unter anderen anzuerkennen. Mit dieser Anerkennung geht die Erschütterung der nazistischen Transformationsmoral einher.' (S. 56)
Stärkstes Argument im Kampf gegen die nationalsozialistische Moralauffassung soll Rationalität sein. 'Die Negation von Inhumanität soll durch den Nachweis einer objektiv-rationalen Moral ein für alle Mal auf sicheren Boden gestellt werden, sodass man die Unmoral der Entmenschlichung so diagnostizieren kann, dass es sich dabei um Irrationalismen, partikularistische oder subjektivistische Verirrungen handelt.' (S. 74) Hinzutritt der 'Maßstab rationaler Kohärenz' (S. 109) oder der Vorwurf 'rationaler Disproportionalität' (S. 108). Jener Verweis auf Rationalität kollidiert aber gerade mit der Rationalitätskritik reflexiver Aufklärung seit Schopenhauer, Nietzsche und Freud, die gerade den undurchschaubaren Doppelcharakter von instrumenteller Vernunft aufzuzeigen versuchte. Der neunseitigen Auseinandersetzung Zimmermanns mit Adorno ist anzumerken, daß hier zwei unterschiedliche Traditionen aufeinandertreffen. Etwas befremdlich ist aber die allzu rasche Disqualifizierung des Diskussionsbeitrags Adornos als 'gesellschaftlicher Globaldiagnose' (S. 128). Auschwitz bildet den Kern in Adornos kulturpessimistischen Philosophie. Wie bei keinem anderen Autor der Kritischen Theorie ist das Ereignis präsent und führt stellenweise zu radikalen Schlüssen. Aber nicht, weil Adorno auf jeder Seite seines Werks eine direkte Auseinandersetzung mit diesem Thema sucht, sondern weil bei seinen philosophischen, literarischen oder soziologischen Reflexionen die abendländische Kultur durch Auschwitz ihren Sinn verloren hat. Adorno stellt den Wert von Kultur überhaupt in Frage, wenn sie in der Lage ist, so etwas wie Auschwitz hervorzubringen. Somit streiten in Adorno zwei Elemente miteinander: das praktische Engagement, alles zu versuchen, damit sich Auschwitz nicht wiederhole, und die pessimistische Skepsis gegenüber naiver Kulturidolatrie und rein akademischer Abstraktion, die sich auf Begriffsbildungen, Begründungsstrategien und Argumentationsspiele zurückzieht, also gegenüber einem fatalen optimistisch-idealistischen Begriffsrationalismus.
Insgesamt ist Zimmermanns material- und aspektreiche Werk eine ambitionierte Studie über verwertbare Argumente gegen Extremismus und Völkermord aus den internationalen Forschungsergebnissen zeitgenössischer akademischer Philosophie (Christine Korsgaard, Richard Rorty). Interessanterweise kommen dabei nicht nur Philosophen nach Auschwitz zu Wort, sondern vor allem werden auch Argumente von Autoren aktiviert, die vor dem Holocaust gelebt und gedacht haben: Immanuel Kant und Max Weber nämlich. Der ungeübte Leser muß sich allerdings zunächst in die szientifische Rhetorik einlesen.