Deutsch ist eine plurizentrische Sprache, denn sie ist in mehr als nur einem Land als nationale oder regionale Amtssprache in Gebrauch. Dadurch haben sich Unterschiede herausgebildet, die vielfach unbemerkt bleiben, gelegentlich aber für Verwirrung sorgen können. So etwa dann, wenn ein Fußballspieler von einem "Goal" oder gar einem "Goalie" spricht, statt das in Deutschland übliche "Tor" oder "Torwart" zu verwenden. Aber auch "Matura" statt "Abitur" oder "Palatschinke" statt "Omelette" sind keineswegs jedem Sprecher der deutschen Standardsprache vertraut. Solche Varianten sind aber nicht einfach Abweichungen von der Standardsprache, die in den unterschiedlichen Dialekten des Deutschen üblich sind. Die Varianten sind stattdessen selbst Teil eines eigenen, eines regionalen Standards. Das ist möglich, weil die deutsche Sprache in mehreren europäischen Ländern als standardisierte Amtssprache erscheint: In Deutschland, Österreich und Liechtenstein als alleinige Amtssprache auf gesamtstaatlicher Ebene, neben anderen in der Schweiz und Luxemburg, sowie als regionale Amtssprache in Ostbelgien und in Südtirol. Die Besonderheiten der einzelnen Amtssprachen tragen zwar nicht den Charakter eigener Sprachen, doch führen verschiedene Unterschiede im Wortschatz und in der Aussprache zur Herausbildung von regionalen Varianten des Deutschen, die als "Varietäten" bezeichnet werden können.
Aus der Perspektive der Sprecherinnen und Sprecher des Deutschen werden diese Unterschiede meist intuitiv als "Abweichungen" gedeutet. Man spricht dann von Unterschieden in österreichischem oder schweizerischem Deutsch und verkennt dabei, daß auch das deutsche Deutsch nur eine gleichrangig neben den übrigen Varietäten stehende Ausprägung ist. Folgerichtig werden im "Varietätenwörterbuch" auch nicht die Abweichungen vom "deutschen Deutsch" hervorgehoben, sondern es werden, von "aalen" bis "Zyklamen", alle Wörter verzeichnet, die nationale oder regionale Besonderheiten aufweisen - unabhängig davon, ob das "deutsche Deutsch" hier die Ausnahme oder die Regel bildet. Das "deutsche Deutsch" wird also nicht eigens hervorgehoben, sondern gliedert sich in die Gesamtmenge der Varietäten ein. Das "Variantenwörterbuch" ist damit keineswegs ein neues Dialektwörterbuch, sondern ein vergleichendes Wörterbuch der verschiedenen deutschen Standardsprachen. Und es erfaßt dabei nur, falls "nur" bei etwa 12.000 verarbeiteten Wörtern und Wendungen ein angemessener Ausdruck ist, die aktuellen Amtssprachen. Das schließt die meisten Wörter der untergegangenen DDR ebenso aus wie alle weiteren regionalen Varianten des Deutschen, die, wie etwa im östlichen Europa, gelegentlich noch existieren, aber keine Amtssprachen sind.
Die Bearbeiter haben damit einen völlig neuen Wörterbuchtyp geschaffen, der über die Zielgruppe der "Inlands-Germanisten" hinaus für Übersetzer und Autoren, für Lehrer, Lerner und sogar Touristen fruchtbar werden kann. Eine ausführliche Einleitung macht daher auch ungeübte Leser vertraut mit der Benutzung der Wortartikel und den soziokulturellen Voraussetzungen des Wörterbuchs. Einige knappe Bemerkungen zur "Sprachanwendung in Situationen", etwa die Unterschiede bei einer Bestellung im Restaurant ("Ich kriege "" vs. "Ich hätte gern "") weisen auf einen gewissen Mangel an Höflichkeitsformeln im "deutschen Deutsch" hin. Im Wörterbuch lassen sich diese Formeln aber beim derzeitigen Stand der lexikographischen Forschung wohl nur erst schwer abbilden. Zumindest findet man kein Stichwort "kriegen" im "Variantenwörterbuch" vor. Vorbildlich und unbedingt zur Nachahmung empfohlen ist dagegen die klare Trennung von Bedeutungsangaben und kategorialen Angaben vom Typ "Döbel" /ein Karpfenfisch/.
Das Wörterbuch enthält neben den "Primärartikeln" auch "Movierungsartikel" wie "Chauffeuse" (CH) und auch einige Namenartikel, zum Beispiel Vornamen wie "Jürg" (CH) und inoffizielle Städte- und Landschafts"namen" wie etwa "Rhonestadt" für Genf. Ob eine Vermischung der Grenzen zwischen Namen und Appellativen in einem Wörterbuch sinnvoll ist, mag noch unentschieden sein. Zumindest im "deutschen Deutsch" stammen viele inoffizielle Städte"namen", wie Victor Klemperer in seinen Tagebüchern vermerkt, aus dem Sprachgebrauch der Nationalsozialisten. Darauf hätte man vielleicht hinweisen sollen, da Gegenwart eben doch ohne Geschichte nicht erfahrbar ist. Auch bei der Auswahl der Stichwörter war sicher nicht immer leicht zwischen einem aufzunehmenden "seltenen" und einem nicht aufzunehmenden "veraltetem" Eintrag zu unterscheiden. So findet sich etwa kein Hinweis auf die "österreichische" Bedeutung des Substantivs "Eigenschaften", die durch Robert Musils Roman zumindest in fachsprachlichen Kontexten konserviert worden ist. Aber damit wäre schon der Plan eines neuen "Variantenwörterbuchs" skizziert, das als "Wörterbuch der deutschsprachigen Varianten um 1900" noch zu schreiben wäre.
Das vorliegende "Variantenwörterbuch" ist aber bereits eine Jahrhundertleistung, die viele dankbare Benutzer finden wird.