Deutsch als Fremdsprache in Europa vom Mittelalter bis zur Barockzeit

Während die Geschichte der deutschen Sprache von ihren frühmittelalterlichen Anfängen an ein zentraler Forschungsgegenstand der Germanistik ist, hat die Beschäftigung mit der Geschichte des Deutschen als Fremdsprache bisher nur wenig Aufmerksamkeit gefunden. Das ist genau genommen einigermaßen erstaunlich, denn das Wissen davon, wer, wann und warum Deutsch als Fremdsprache gelernt hat, kann viel über die Bedeutung und das Prestige aussagen, das der deutschen Sprache in den verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung entgegen gebracht worden ist. Da in der Mehrzahl der Fälle die Sprache kaum um ihrer selbst Willen gelernt wurde, ergeben sich wertvolle Einblicke auf die Anziehungskraft der deutschen Kultur in Europa. So wird man hier formulieren dürfen, denn Helmut Glück beschränkt sich in seiner ohnehin recht umfangreichen Darstellung auf die Jahrhunderte zwischen Frühmittelalter und Barockzeit. Der oft aggressive Sprachimperialismus der deutschen Sprachpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, der wenig mehr mit „Anziehungskraft“ zu tun hat, ist kein Bestandteil dieses Bandes. Wir bewegen uns bei der Lektüre also gewissermaßen in einer versunkenen, sprachpolitisch heilen Welt, die Helmut Glück höchst anschaulich zum Leben erweckt.
Die Quellen für seine Geschichte des Deutschlernens findet Glück in handschriftlichen und gedruckten Sprachlehrtexten, in der Sprachhistoriographie anderer Sprachen, den Darstellungen der Geschichte von Einwanderer- und anderen sozialen Gruppen, von Auslandsreisen und Handelsbeziehungen, aber auch in der Darstellung konkreter Kommunikationssituationen, u.a. in der Erzählliteratur, der pädagogischen Literatur, in Rechtstexten, Briefen und Gedichten
Nach einleitenden Vorbemerkungen zur Frage was überhaupt unter „Deutsch“ bzw. „Deutsch als Fremdsprache“ zu verstehen ist, etwa gerade auch in Abgrenzung zum Niederdeutschen, Niederländischen und Jiddischen, die im Untersuchungszeitraum gewissermaßen Schwestersprachen des Hochdeutschen sind, werden die ältesten Berichte über „Sprachkontakte des Deutschen“ vorgestellt. Die drei darauf folgenden Hauptkapitel des Bandes unterscheiden sich in Aufbau und Perspektive. Zunächst geht es im sprachsoziologischen Sinne um die sozialen Domänen der Sprachverwendung. Glück stellt Handlungszusammenhänge dar, in denen das Deutsche als Fremd-sprache gelernt und verwendet worden ist. In einer vormodernen Gesellschaft handelt es sich dabei um Domänen wie „Fernhandel“, „Handwerkerwanderungen“, „Schüleraustausch und Sprachreisen“, „Fernheiraten“, „Fernreisen“, „Akademische Wanderungen“ und die „Kavalierstour“, aber auch um das „Fahrende Volk“ oder um „Migrationsbewegungen“, etwa von Italienern, Spaniern und Tschechen sowie um die „Frankophonen Glaubensflüchtlinge“ Wallonen, Hugenotten und Waldenser. Die Sprachkontaktforschung wird gerade hier vor ganz neue Herausforderungen gestellt, weil immer zu berücksichtigen ist, daß es die Migranten in der Regel weder in ihrer Muttersprache, noch im Deutschen mit einer standardisierten Sprachnorm zu tun hatten.
Im Anschluss an die sozialen Domänen wird die Bedeutung des geographischen Raumes untersucht. Die einzelnen Abschnitte sind den Räumen Frankreich, Italien, dem Baltikum, Rußland, den skandinavischen Ländern, den Niederlanden, den britischen Inseln, der iberischen Halbinsel, den böhmischen Ländern und Polen gewidmet. Dabei wird jeweils auch die Auswanderung aus dem binnendeutschen Sprachraum berücksichtigt, wenn sie zur Bildung größerer deutschsprachiger Kolonien oder gar Sprachinseln geführt hat. In einigen Ländern Nord- und Ostmitteleuropas ist die Geschichte des Deutschen ganz offensichtlich auch untrennbar mit der Geschichte der Emanzipation der jeweiligen Landessprachen verbunden.
Systematischer Höhepunkt ist schließlich das dritte Kapitel, das eine chronologische Geschichte der Lehrwerke für das Deutsche als Fremdsprache bietet. Von besonderer Bedeutung sind hier für das Mittelalter die Tradition des „Vocabularius ex quo“, für die Frühe Neuzeit die „oberitalienischen Sprachbücher des 15. Jahrhunderts und die Tradition des vochabolista“. Damit hat Helmut Glück als erster einen Versuch vorgelegt, „die Geschichte des Erwerbs der Volkssprache Deutsch durch Menschen anderer Muttersprache vom Mittelalter bis in die Barockzeit nachzuzeichnen“ (S. 13). Dafür gebührt ihm große Anerkennung. Anerkennung auch dafür, daß er selbst die größten Lücken seiner Darstellung benennt, die in der näheren Zukunft noch geschlossen werden sollten: Die Geschichte des Deutschen bzw. Österreichischen als Fremdsprache in den Ländern der Donaumonarchie und ihren Einzugsgebieten, die Auswertung auch der autobiographischen Literatur und der Reiseliterstur, um nur die wichtigsten herauszugreifen.
Ohnehin ist es bei einer derart unübersehbaren Stoffmenge kaum zu erwarten, daß – trotz eines 70 Seiten umfassenden Literaturverzeichnisses – jede Facette der Forschungsliteratur vollständig ausgewertet werden kann. So werden einige einschlägige Texte erfreulicherweise zwar erstmals in einem größeren Zusammenhang erwähnt, beispielsweise der Codex Cumanicus, der ein um 1350 auf der Krim entstandenes kumanisch-deutschen Glossar enthält, das Kaufleuten den Umgang mit der turksprachigen Bevölkerung erleichtern sollte. Es fehlen hier allerdings alle Hinweise auf die neuere Forschungsliteratur (etwa in Sprachwissenschaft 19 [1994], S. 62–114, und Verfasserlexikon, 2. Aufl., Nachtragsband, Berlin, New York 2003, Sp. 867–869). Vergleichbares gilt für Sebald Heydens ursprünglich lateinisch-deutsches Sprachlehrbuch „Formulae Puerilium Colloquiorum“, das exemplarisch den Übergang von der Zielsprache Latein zur Zielsprache Deutsch dokumentiert (Zeitschrift für deutsche Philologie 114 [1995], S. 99–109 und demnächst zur Verbreitung in Europa zwischen 1527 und 1800 in: Walter Schmitz [Hg.], Jahrbuch des Mitteleuropäischen Germanisten Verbandes 1, Dresden 2005).
Die großen Sprachgeschichten des Deutschen haben – trotz aller pragmatischen Wenden – den internationalen, interkulturellen, europäischen Aspekt der Sprache außerhalb von Lehnwortforschung und den Fragen des topologischen und genetischen Sprachvergleichs bisher allenfalls am Rande behandelt. Dies wird nach Erscheinen des Glückschen Buches nicht mehr möglich sein.