Demosthenes von Athen
Ein Leben für die Freiheit

 „Hättest du gleich deinem Willen, Demosthenes, Kräfte besessen, kein makedonischer Speer hätte die Griechen beherrscht', lautete die Inschrift auf der Basis der Statue des Demosthenes, die kurz nach seinem Tod zu seinem Gedenken in Athen errichtet wurde (Plutarch, Demosthenes 30,5). Die Worten illustrieren die Tendenz zur Heroisierung des attischen Redners und Politikers als Freiheitskämpfer, die allerdings nur dem einen Teil seines janusgesichtigen Porträts entspricht: In antiker wie moderner Beurteilung steht der heroischen Stilisierung eine negative Einschätzung des Demosthenes als eines korrupten Opportunisten gegenüber.
Nach der französischen Demosthenesbiographie von Pierre Carlier (1990) und der englischsprachigen von Raphael Sealey (1993) bringt Gustav Adolf Lehmann die Untersuchungen zu der umstrittenen Gestalt des attischen Redners in einer deutschen Publikation auf den aktuellen Stand. Im Kontext der politischen Geschichte des 4. Jahrhunderts v. Chr. verfolgt er Demosthenes‘ Laufbahn von dessen Kindheit und Jugend, von seinen ersten öffentlichen Auftritten in den Prozessen um sein Erbe über seine Tätigkeit als Logograph bis zu seiner wechselhaften Karriere in Athen unter den Vorzeichen der makedonischen Expansion und Hegemonie und seinem Freitod im Jahre 322 v. Chr. unter dem makedonischen strategos Antipater.
Den Schwerpunkt der Abhandlung bildet naturgemäß die Zeitspanne von Demosthenes‘ intensivstem Wirken, seiner politischen Agitation gegen Philipp II. als Bedrohung der athenischen Autonomie, in Konfrontation mit der gemäßigten Richtung der „Friedenspolitiker“ unter Eubulos und Phokion. Anhand der Quellenzeugnisse der überlieferten demosthenischen Reden gelingt Lehmann ein anschaulicher Einblick in das politische Tagesgeschehen Athens vor dem Hintergrund des makedonischen Aufstiegs. Die Polarisierung der Führungssschicht in der Frage der Außenpolitik, die teilweise zur Ineffektivität und Lähmung Athens führte, wird ebenso manifest wie die Taktik, den innenpolitischen Gegner durch gezielte Verratsvorwürfe in Mißkredit zu bringen. Es entsteht das zutreffende Bild eines Primats der innerathenischen Konflikte, die Ausdruck finden in Verleumdungen, Polemisierung und Anklagen. Hiergegen versuchte Demosthenes mit Warnungen vor Philipp in der Negativkonnotation des Barbaren, Tyrannen und Räubers anzukämpfen, doch beteiligte er sich selbst an den Kampagnen gegen Aischines und dessen Anhänger.
Für die Forschung schwer faßbar ist die Haltung des Demosthenes gegenüber Philipps Nachfolger Alexander, den er anfänglich unterschätzte und durch die Zerstörung Thebens widerlegt wurde. Dennoch polemisierte Demosthenes bis zum Sieg der Makedonen bei Issos 333 v. Chr. offen gegen Alexander, entwickelte sich danach aber zu einer schattenhaften Randfigur, die erst 324 v. Chr. in der unrühmlichen Harpalosaffäre erneut ins Licht trat. Auf der Basis der Anklagen des Hypereides wird Demosthenes in seiner letzten Wirkungsphase daher vielfach als Schmeichler und Agent Alexanders gesehen, dessen politische Kehrtwendung vor allem auf den Effekt von Korruption zurückzuführen sei.
Lehmann verteidigt Demosthenes‘ Kurswechsel als Maßnahme der Staatsräson, die auf der Einsicht beruht habe, der makedonischen Macht unterlegen zu sein, und beurteilt diese Anpassung aufgrund realistischer Einschätzungen als bemerkenswert.
Wie der Untertitel der Biographie, „Ein Leben für die Freiheit“, verdeutlicht, wird ein überaus positives Bild des attischen Redners als eines herausragenden Politikers gezeichnet (S. 129), der im Kampf für eine „überzeitliche, freiheitliche Mission Athens in der hellenischen Staatenwelt“ (S. 38) seine persönliche Berufung gefunden habe.
Obgleich dieses Porträt im Licht eher kritischer Stellungnahmen wie zuletzt von Gerhard Wirth (Hypereides, Lykurg und die autonomia der Athener, 1999) etwas hagiographisch stilisiert erscheint – entsprechend die Darstellung des Aischines zu negativ – bietet die Biographie keinesfalls eine einseitige Perspektive. So wird Demosthenes‘ großer Kontrahent Philipp II. in neutraler Sachlichkeit als geschickter, fähiger und charismatischer Staatsmann geschildert, der sich mit militärischen ebenso wie mit diplomatischen Mitteln durchzusetzen wußte.
Zusammenfassend ist zu sagen, daß Lehmanns Demosthenesbiographie einen sorgfältigen und fundierten Einblick in eine bewegte Zeit der athenischen Geschichte des 4. Jahrhunderts v. Chr. bietet, der die Quellen ebenso berücksichtigt wie die Thesen der älteren und modernen Forschung. Mit einem nachgestellten Glossar zu „Institutionen und politischen Grundbegriffen“ und einem vertieften kritischen Anmerkungsapparat wird auch Einsteigern ein guter Zugang zu der Thematik ermöglicht. Das Buch stellt somit einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um Demosthenes‘ Positionierung dar; es ist unbedingt empfehlenswert.