Ideengeschichte der Physik

Es hat sich schon bis in die Ecken der hartnäckigsten physikalischen Empiristen herumgesprochen, daß die Wissenschaft von materiellem Aufbau der Welt nicht allein auf Beobachtung und Experiment gegründet werden kann, sondern auch auf Ideen. Die bedeutenden schöpferischen Physiker hatten alle erkenntnisleitende Heuristiken vor Augen nach denen sie die Konstruktion ihrer Theorien in Angriff nahmen. Wilfried Kuhn, em. Prof. für Didaktik der Physik der Universität Gießen hat sich die Aufgabe gestellt, die Leitbilder des Theorienbaus in der Geschichte der Physik herauszuarbeiten. Dies ist zweifelsohne ein verdienstvolles Ziel, speziell für den Physik-Unterricht an Gymnasien da nur auf diese Weise den Schülern die großen weltbildartigen Sinnzusammenhänge klargemacht werden können. Nur so wird das 'trockene' Fach Physik den Heranwachsenden fesseln können und ihn zum nötigen Einsatz veranlassen.
W. Kuhn geht zuerst die Geschichte der Philosophie durch, indem er die jeweiligen Basisprinzipien der Vorsokratiker, der Aristotelik, der Platoniker, der Stoiker die maßgebend an der Entrichtung der physikalischen Theorien beteiligt waren, herausarbeitet und z. T. mit modernen Konzeptionen konfrontiert. Dabei zeigt er überraschende Invarianten in den Leitideen auf, die man sogar als eine physica perennis titulieren könnte. Die naturphilosophischen Basismodelle kehren anscheinend immer wieder, wie Kuhn an dem antagonistischen Verhältnis von Platon und Aristoteles demonstriert, einmal das Vorherrschen des Abstrakt-Mathematischen und dann wieder das Anklammern an die Erscheinungen der Materie. Den Nachklang dieses Gegensatzes hört man heute, wenn die Verteidiger der mathematischen Superstringtheorien oder der algorithmischen Komplexitätstheorie mit den bodennahen Experimentalphysikern über den Status der Physik debattieren. Ausführlich stellt Kuhn das Planetenmodell der Ptolemaios dar und in einiger Detailliertheit auch jene Denkrichtungen, die im Mittelalter den Übergang von der aristotelischen zur galilei'schen Dynamik bewirkt haben. Die Existenz dieser vielfältigen Zwischenschritte bei der Gewinnung des korrekten dynamischen Grundgesetzes zeigt auch, wie wenig es gerechtfertigt ist von einem radikalen Paradigmenwechsel in der Naturwissenschaft zu sprechen.
Naturgemäß verbreitert sich die Darstellung Kuhns, wenn er die Astronomie der Neuzeit erreicht. Hier scheut er sich auch nicht, politisch heiße Eisen, wie die Volkszugehörigkeit des Kopernikus eindeutig zu klären. Die Darstellung der heliozentrischen Hypothese ist eingehend und genau. Zum Interessantesten gehört auch die Rezeptionsgeschichte des Kopernikanischen Systems. Um die großen Entdeckungen ranken sich zahllose wissenschaftshistorisch nicht haltbare Mythen, die erst durch eine reflektierte ideologiekritische Historiographie dekonstruiert werden können. Durch Kant ist solch ein kopernikanischer Mythos aufgebracht worden, der nur mit Mühe und viel historischer Sachkenntnis abgebaut werden konnte. Wenn schon einem Forscher das Epitheton ornans 'Umstürzend' zukommt, dann eher Kepler, der den Schritt von der kinematischen Naturbeschreibung zur dynamischen Naturerklärung getan hat, zumindest indem er es als heuristisches Programm formulierte.
Der Autor geht in der Folge alle entscheidenden Schritte bei der Genesis der neuzeitlichen Naturwissenschaft in einer wissenschaftlich-historischen und wissenschaftlich-theoretischen sorgfältig reflektierenden Weise, durch mit einer Fülle von gut ausgesuchten Originalbelegen und informativen zeitgenössischen Skizzen. Er bemüht sich auch, die kreativen Anteile der Vorreiter und Vorgänger der bahnbrechenden Ideen herauszuarbeiten, womit sich auch für begriffsgeschichtlich Interessierte die Entstehung der modernen Naturwissenschaft sehr gut verfolgen läßt. Die Darstellung der historischen Entwicklung wird auch gelegentlich durch weitgespannte Verbindungen, z. B. zwischen klassischem Determinismus und modernen Betrachtungen zur Stabilität und zur chaotischen Zustandsveränderung aufgelockert. W. Kuhn scheut sich auch nicht, gerade bei der Geschichte des Elektromagnetismus Anekdotenhaftes in die Darstellung einfließen zu lassen, wodurch die geschichtlichen Gestalten zu lebendig agierenden Personen werden und ihre starre schemenhafte Existenz Leben erhält. Der Autor führt die begriffsgeschichtliche Diskussion weiter zur Maxwelltheorie, die ja durch das Äther-Problem den Kern zu den relativistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts in sich trägt. Großen Wert legt der Autor dabei auf die heuristische Funktion von Analogien, denen nicht nur eine Funktion beim Erkenntnisfortschritt zukommt, sondern die darüber hinaus auf eine 'informationstheoretische Redundanz unseres Denkens über die komplexen Naturphänomene (s. 343)' verweisen. Um ein Schlagwort zu verwenden das gegenwärtig sehr en vogue ist, könnte man in der Analogie einen Verweis auf die algorithmische Kompressibilität der Realität sehen.
In der Folge behandelt W. Kuhn sorgfältig alle zentralen Theorie-Komplexe der Physik, die das heutige Corpus der gültige Physik ausmachen, wobei er jedes Mal in einem eigenen Abschnitt die philosophischen Implikationen der Theorien herausstellt, sei es daß bei Thermodynamik der Zeitpfeil und bei der Relativitätstheorie der Status von Raum und Zeit zur Sprache kommt. Der Abschnitt über die Quantenphysik referiert eingehend das Interpretationsproblem und ist darüber hinaus auch mit einem freudigen Engagement geschrieben, so daß dieser Teil der jüngsten Geschichte der Physik lebendig vor dem Leser entsteht. Biographisches wird geschickt mit den Sachproblemen verflochten und im Kapitel 14 kann der philosophisch interessierte Leser die bis heute noch nicht abgeschlossene Deutungsgeschichte der Quantenmechanik verfolgen. Ein Abriß der relativistischen Kosmologie rundet das Buch ab und schließt mit einen Ausblick auf das Anthropische Prinzip, das der Verfasser mit gebührender Skepsis betrachtet.
Rundherum handelt es sich bei Wilfried Kuhns 'Ideengeschichte der Physik' um ein erfreuliches, durchweg empfehlenswertes Buch, das man aufgrund seines hohen Informationsgehaltes und seiner klaren Schreibweise jedem der die großen Etappen der Geschichte der Physik kennenlernen möchte ans Herz legen kann.