Ein Ende der Religionen
Naturwissenschaftliche und religiöse Weltbilder

Die Konfrontation von Religion und Naturwissenschaft ist so alt wie beide zusammen in der Gesellschaft existieren. Schon im Jahre 432 v. Chr. erließ der fromme Seher Diopeithes ein Edikt, wonach alle jene verfolgt werden sollten, die nicht an die vom Staat anerkannten Götter glaubten. Das erste Opfer des Dekretes wurde Anaxagoras von Klazomenai, der es gewagt hatte die meteorologischen, geologischen und astronomischen Erscheinungen naturalistisch zu erklären. Nur die Bekanntschaft mit dem liberalen Perikles rettet den wegen Asebie angeklagten Anaxagoras. Der für die christliche Ära am meisten maßgebende Platon sieht für hartnäckige Gottesskeptiker die Todesstrafe vor (Nomoi X, 909). Diese beiden Beispiele aus der griechischen Antike, die in vieler Hinsicht wesentlich toleranter war als die folgenden Epochen, mögen darauf hinweisen, daß das Verhältnis der beiden Weltbilder, dem rational-empirischen und dem mythisch-magischen von Anfang an mit einer Spannung belastet war, die bis zur Gegenwart nicht aufgehoben werden konnte.
Ferdinand Cap, emeritierter Professor für Theoretische Physik an der Universität Innsbruck, versucht in seinem neuen Buch 'Ein Ende der Religionen?' auch gar nicht den Antagonismus der beiden Lebensorientierungen, der emotiven und der intellektuellen, aus dem Wege zu gehen oder diese mit Beschwichtigungsformeln zu überbrücken, sondern arbeitet in voller Schärfe den Kontrast zwischen beiden Weltsichten heraus.
Dabei analysiert er die neuralgischen Schnittstellen in der Natur, die immer wieder die Kontroversen zwischen den beiden Zugängen evozieren, des ideologischen und des wissenschaftlichen. Selbst hartnäckige Spiritualisten leugnen heute kaum mehr, daß die Materie die Basis der Natur bildet. Cap liefert eine Skizze des heutigen Wissens vom Aufbau der Materie und weitet anschließend den Blick auf den Ursprung und das Ende der kosmologischen Entwicklung. Damit begegnet er naturgemäß auch den Berührungspunkten mit dem religiös-mythischen Weltbild, das gerade für die Kosmogonie und die Eschatologie definite Vorstellungen entwickelt hat. In besonderer Weise ist diese Begegnung der Weltorientierungen für die Stammesgeschichte des Menschen gegeben, da die Religionen zentral immer an der menschlichen Natur und deren Steuerung interessiert waren. Im fünften Abschnitt beginnt der Autor das Hauptthema des Buches, die Auseinandersetzung von Naturwissenschaft und Religion, in Angriff zu nehmen. Dabei scheut er sich nicht zur Illustration der trennenden Aspekte auch skurrile Anekdoten heranzuziehen, wie die moralischen Skrupel eines Vegetariers angesichts des Empfanges der heiligen Kommunion. Einen eher rein wissenschaftstheoretischen Inhalt hat der sechste Abschnitt, in dem Cap nach dem Ursprung der Naturgesetze fragt. Diese auch gegenwärtig noch intensiv untersuchte Problematik (Vgl. Philosophia naturalis 37 (2000), 2) beantwortet der Autor im konventionalistischen Sinne. Hier werden ihm möglicherweise nicht alle Leser zustimmen v. a. jene die einen hypothetischen Realismus befürworten (Vgl. M. Bunge: Treatise on Basic Philosophy, Vol. VII, 1).
Das Zentralthema des Buches wird aber nicht berührt dadurch, welche Position man bezüglich des ontologischen Status von Naturgesetzen einnimmt. So arbeitet der Verfasser in den folgenden Kapiteln sehr markant und v. a. durch interessante religionsgeschichtliche Vergleiche untermauert den unaufhebbaren Gegensatz zwischen der naturalistischen und der überweltlichen Weltsicht heraus. Unter Rekurs auf die aktuellen Arbeiten zur Religionskritik und zur Fundamentalismusanalyse speziell in den monotheistischen Religionen spricht er auch sehr offen das latent dort immer vorhandene Aggressionspotential an, das zwar heute unter dem Einfluß des aufklärerischen Humanismus gedämpft wurde, subkutan aber in allen Religionen von jüdisch-christlichem Typus vorhanden ist. Sehr informativ sind dabei die hierzulande noch wenig bekannten Belege für die Intoleranz und Verständnislosigkeit der islamischen Religionsvertreter für Ungläubige und Skeptiker. Der Islam hat wohl noch viel Nachholbedarf in Aufklärung und rationaler Metaphysikkritik, wobei er durchaus bei seiner eigenen Tradition Anleihe nehmen könnte. Schon Ibn Ruschd (Averroes) vertritt in seiner 'Unterscheidenden Rede' die Ewigkeit der materiellen Welt, die Unfähigkeit Gottes den einzelnen Menschen zu kennen und verneint die Auferstehung der Körper (G. Minois: Geschichte des Atheismus, S. 74).
Zu den immer wieder tradierten Gründen für die Unentbehrlichkeit der Religion wird ihre Rolle bei der Konstituierung von Moral und Sittlichkeit angeführt. Selbst Voltaire meinte noch, daß der Glaube an eine furchteinflößende, außerweltliche, gesetzgebende Moralinstanz die Menschen bezüglich ihres Aggressionsverhaltens disziplinieren könnte. Sieht man sich aber die historischen Gesetzestexte, wie den Dekalog an und analysiert sie vom Standpunkt eines humanistischen Konsequentialismus, wie dies Cap im 9. Kapitel seines Buches tut, findet man sowohl Redundantes, wie Ungereimtes in diesen alten Texten. Entscheidend ist dabei wohl die Einsicht des Autors, daß es 'kein für alle Zeiten und alle Menschen allgemein verbindliches Wertesystem gibt', womit die pragmatische Dimension der Ethik eröffnet wird. Diese dient der Ordnung eines gedeihlichen Soziallebens in Abhängigkeit von den sozioökonomischen Randbedingungen, ist also nie überzeitlich fixierbar. Der Autor spricht sich dann sehr emphatisch für einen weltlichen Humanismus aus, der im starken Kontrast zu jeder theonomen Ethikfundierung steht. Zu den brisantesten Themen gelangt der Autor im zehnten Kapitel, wo es um die kausale Rolle der Religionen beim Anstiften von Kriegen, bei Gewalt und Unterdrückung geht. Die Schwierigkeiten liegen in diesem Bereich natürlich darin, bei Grausamkeiten und Genoziden die sozialen, politischen und religiösen Partialursachen aufzuschlüsseln. Allerdings besteht kein Zweifel, daß die religiösen Überzeugungen zumindest eine Verstärkerfunktion bei ethnischen Konkurrenzsituationen ausüben und als Legitimationen von Aggressionsakten eine überlebensdienliche Funktion von Völkern haben.
Cap wagt eine Vermutung in Richtung auf die Zukunft der Religion. Schon S. Freud (Die Zukunft einer Illusion) und B. Russell (Und dennoch siegt die Vernunft) hofften, daß die Rationalität sich langsam gegenüber der Irrationalität, philosophisch die Dianoia gegenüber der Paralogie, durchsetzen werde. Man möchte wünschen, daß Cap mit seiner Vermutung Recht behält, allein die Evolutionsbiologen die die Gründe für die ethnische Ubiquität von Religion zu erklären suchen, haben die Annahme vorgelegt (V. Sommer: Die Vergangenheit einer Illusion), daß für religiöse Einstellungen eine genetische Disposition vorhanden sein muß, anders sei es nicht zu verstehen, daß über so lange Zeit so große Volksteile sich auf derartig drastische Realitätsverzerrungen und auf jeden Alltagsverstand durchbrechende übernatürliche Vorgänge einlassen. Jedoch, selbst wenn in den Menschen ein Stück Religion als Naturanlage verborgen ist, sollte man solchen Mahnern wie Ferdinand Cap Gehör schenken, vielleicht vermag die wissenschaftliche Rationalität, zumindest auf lange Sicht, es doch, mehr Humanität zu verbreiten.